Elfriede Gerstl

ORF

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Elfriede Gerstl

"mein himmel ist hier und jetzt" - Gedanken zum 90. Geburtstag von Elfriede Gerstl von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer

Wenn ich aufwache, freue ich mich oft schon auf das, was ich heute lesen werde. Ich weiß zwar, ich muss noch lange darauf warten, denn am Morgen darf ich mich noch nicht einlassen auf fremde Sätze und Welten, zuerst kommt das Schreiben und Übersetzen, danach stehen die Erledigungen an, die Mails, Termine und Telefonate, aber am späten Nachmittag ist es dann endlich so weit: Ich darf lesen. Oft muss ich auch lesen, weil die nächste Rezension schon dringend abzuliefern ist; aber auch da sage ich mir: Ich darf lesen, denn es ist ein Privileg, dass die am längsten anhaltende Faszination meines Lebens auch ein Teil meiner Arbeit geworden ist.

Mag das Buch auch 900 Seiten haben und die Zeit drängen - ich freue mich darauf, gegen Abend einzutauchen in einzigartige Sätze und in Welten, die nur dieses Buch entwirft. Aber immer wieder brauche ich auch die ganz kurzen Texte, bei denen es auf jedes Wort ankommt und auf seine Stellung im Satz; Texte, die mir genau in Erinnerung bleiben und zu Signalsätzen werden. In der hellgrünen fünfbändigen Werkausgabe von Elfriede Gerstl finde ich immer wieder solche Sätze.

wird schon nix gutes sein
wenn man das beste
draus machen muss

lese ich da - diese drei Zeilen haben mir die Phrase "das Beste aus etwas machen" endgültig ausgetrieben. Und außerdem freue ich mich, dass ein Tag begonnen hat, aus dem ich nichts machen muss. Wenn ich das begreife und genieße, dann ist jeder Tag gut. Dann genügt es, wenn ich bei mir selbst bleibe, bei meinem Ich, bei meinen eigenen Bildern und Sätzen; darum schreibe ich. Und wenn ich mich fremden Welten und Sätzen aussetze; darum lese ich.

Klingt einfach - ist es aber nicht. Die fremden Sätze sind oft eine Provokation. "Manchmal passe ich nicht in meine Weltanschauung" - auch das ein Satz von Elfriede Gerstl. Und er sagt, dass die Sache mit dem eigenen Ich eben nicht so einfach ist, dass man sich, gerade wenn man bei sich selbst bleibt, auch unverständlich wird. Aber nur das, was man nicht bis in den letzten Winkel ausleuchtet mit seiner Weltanschauung und seinem Verstehen, bleibt interessant. Das gilt für das eigene Ich und erst recht für andere Menschen. Und auch für den Tag, der gerade beginnt.

Service

Bücher von Elfriede Gerstl, "Werke", "Neue Wiener Mischung. Gedichte und anderes", "Mein papierener Garten. Gedichte und Denkkrümel", "Lebenszeichen. Gedichte, Träume, Denkkrümel", "Spielräume", Literaturverlag Droschl

Sabine Scholl, "Über Elfriede Gerstl", Mandelbaum Verlag
Konstanze Fliedl, Christa Gürtler (Hg.), "Elfriede Gerstl", Literaturverlag Droschl
Christa Gürtler, Martin Wedl, "wer ist denn schon zu hause bei sich", Paul Zsolnay Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Astor Piazzolla
Bearbeiter/Bearbeiterin: Melissa Coleman
Album: Catch The Cat
Titel: Libertango/instr.
Ausführende: eXtracello
Ausführender/Ausführende: Edda Breit
Ausführender/Ausführende: Gudula Urban
Ausführender/Ausführende: Melissa Coleman
Ausführender/Ausführende: Margarethe Herbert
Solist/Solistin: Karl Ratzer
Solist/Solistin: Peter Herbert
Länge: 03:16 min
Label: eXtracello 2018

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