Cornelius Hell über Elfriede Gerstl

14. Juni 2022, 06:56

jemanden umarmen
weil er sich fürchtet
weil ich mich fürchte
weil er traurig ist
weil ich traurig bin
weil wir uns wiedersehen
weil wir abschiednehmen
jemanden umarmen
weil man es kann
jemanden umarmen
solange man es kann (Haus und Haut 312)

Das Gedicht "jemanden umarmen" von Elfriede Gerstl ist mir seit Beginn der Pandemie besonders oft durch den Kopf gegangen. Nie hatte ich mir vorstellen können, jemanden nicht umarmen zu dürfen, doch in den letzten beiden Jahren musste ich mich oft zurückhalten oder habe gezögert: Ist meine Umarmung gefährlich? Muss ich mich selber fürchten?

Am Anfang des Lockdowns im März 2020 wagte ich es nicht einmal, meine Kinder zu umarmen, denn ich war gerade von einer Reise zurückgekehrt. Bald danach habe ich gespürt, was es mir bedeutet, dass ich wenigstens meine Kinder und einen lieben Menschen umarmen darf; ich kann mir noch immer nicht vorstellen, wie es wäre, so lange ganz ohne jede Umarmung auskommen zu müssen.

Von allem, was über Leben und Werk von Elfriede Gerstl geschrieben wurde, ist mir vor allem eine Aussage von Franz Schuh im Gedächtnis geblieben. Er spricht von einer einfachen Utopie hinter dem Schreiben von Elfriede Gerstl: "nämlich, dass es noch einen Sinn hat, seine Erfahrungen weiterzusagen." Kurz und verknappt blitzen diese Erfahrungen auf in ihren Gedichten - und gerade deswegen lese ich sie so gerne. Und weil diese Erfahrungen nie mit unhinterfragbarer Wucht daherkommen, sondern reflektiert und relativiert durch Ironie. So kann ich mit meinen eigenen Erfahrungen an Elfriede Gerstls Texte anschließen - auch dort, wo diese ganz anders sind.

Und deswegen versuche ich auch - auch wenn ich keine Gedichte schreibe -, meine Erfahrungen weiterzusagen. Vielleicht hilft es ja jemandem, seine oder ihre eigenen wichtig zu nehmen und auch zu erzählen.

Service

Bücher von Elfriede Gerstl, "Werke", "Neue Wiener Mischung. Gedichte und anderes", "Mein papierener Garten. Gedichte und Denkkrümel", "Lebenszeichen. Gedichte, Träume, Denkkrümel", "Spielräume", Literaturverlag Droschl

Sabine Scholl, "Über Elfriede Gerstl", Mandelbaum Verlag
Konstanze Fliedl, Christa Gürtler (Hg.), "Elfriede Gerstl", Literaturverlag Droschl
Christa Gürtler, Martin Wedl, "wer ist denn schon zu hause bei sich", Paul Zsolnay Verlag

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler