Elfriede Gerstl

ORF

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Elfriede Gerstl

"mein himmel ist hier und jetzt" - Gedanken zum 90. Geburtstag von Elfriede Gerstl von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer

Ich konnte schon fließend lesen, als meine Mutter einen gelben Stern mit vier aufgedruckten Buchstaben auf meinen braunen Mantel nähte.
In dem einzigen Zimmer unserer neuen Wohnung hatten wir auch am Tag die schwarzen Verdunkelungsrouleaux heruntergelassen, meist lag ich auf meinem Bett, denn wir durften uns nur lautlos bewegen - man sollte unsere Wohnung für leer halten.
So lag ich und horchte mit angehaltenem Atem, wenn ich Schritte im Hausflur hörte - ob sie sich nicht unserer Tür nähern...
Manchmal fielen mittags durch die Risse der Rouleaux verirrte Lichtstrahlen.

Diese Sätze schrieb Elfriede Gerstl im Jahr 1957 in ihrem "Lebenslauf" - als Fünfundzwanzigjährige; morgen wäre sie neunzig geworden. Ihr Leben, das 2009 zu Ende ging, war geprägt von den Kindheitsjahren im Versteck - nicht immer in der Wohnung, auch im Kohlenkeller musste sie sich mit ihrer Mutter verstecken, wo sie sich "tot oder schon deportiert stellte", wie sie einmal schrieb. Denn die Nationalsozialisten trachteten ihr wegen ihrer jüdischen Herkunft nach dem Leben. Unter diesen Umständen hat sie lesen und schreiben gelernt; eine Schule konnte Elfriede Gerstl erst nach dem Krieg besuchen.
Lesen und Schreiben ist zu ihrem Leben geworden - und Sammeln, vor allem von Mode. In ihrem Buch "Kleiderflug" schreibt sie: "literatur und sammeln entspringt einem mangel / irgend einem mangel trotzig die fülle entgegensetzen".

Gesprochen oder geschrieben hat Elfriede Gerstl über ihre schlimmsten Erfahrungen nur selten, und wenn, dann so knapp und beiläufig, wie sie über alles schrieb, was ihr wichtig war; zum Beispiel in diesem kurzen Gedicht im Wiener Dialekt aus dem Jahr 2004:

April 1945
a bissal gfiacht
a bissal gfreit
hauptsach ausn kölla
aussegräud

Wer das nie am eigenen Leib erfahren musste, wird diese Erfahrung nie nachempfinden können. Wie wir auch nicht spüren können, was die Kinder empfinden, die sich heute verstecken oder flüchten müssen, um vielleicht am Leben zu bleiben. Wir können ihnen bestenfalls helfen.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Laurie Anderson
Bearbeiter/Bearbeiterin: Melissa Coleman
Album: Catch The Cat
Titel: O superman/instr.
Ausführende: eXtracello
Ausführender/Ausführende: Edda Breit
Ausführender/Ausführende: Gudula Urban
Ausführender/Ausführende: Melissa Coleman
Ausführender/Ausführende: Margarethe Herbert
Solist/Solistin: Bernhard Landauer
Solist/Solistin: Peter Herbert
Solist/Solistin: Paul Schuberth
Länge: 04:13 min
Label: eXtracello 2018

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