Brigitte Schwens-Harrant

ORF/JOHANNES PUCH

Gedanken für den Tag

Brigitte Schwens-Harrant über E. T. A. Hoffmann

"Meister des Unheimlichen - E. T. A. Hoffmann zum 200. Todestag" von Brigitte Schwens-Harrant, Literaturkritikerin, Buchautorin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche"

Stolpernde Figuren
"Am Himmelfahrtstage Nachmittags um drei Uhr rannte ein junger Mensch in Dresden durchs schwarze Tor und gerade zu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes hässliches Weib feil bot, so, dass alles, was der Quetschung glücklich entgangen, hinausgeschleudert wurde, und die Straßenjungen sich lustig in die Beute teilten, die ihnen der hastige Herr zugeworfen."
So wie der Student Anselmus in dem Märchen "Der goldene Topf" von E. T. A. Hoffmann stolpern viele seiner Figuren aus der bürgerlichen Bahn. Auf einmal tut sich ein Riss auf in der geordneten Welt. Anselmus jedenfalls wird bald unter einem Holunderbaum sitzen und Flüstern und Lispeln hören. Und er wird ziemlich wunderliche Dinge sehen: "drei in grünem Gold erglänzende Schlänglein, die sich um die Zweige gewickelt hatten, und die Köpfchen der Abendsonne entgegenstreckten".
Zunächst möchte er sich die Erscheinung mit dem Abendwind erklären, dann mit der Abendsonne. Doch seine Erfahrung entzieht sich derartiger rationaler, naturwissenschaftlicher Erklärungen.

Die Bürgersfrau, die vorbeikommt, sieht, wie der Student den Stamm des Holunderbaums umfasst und "unaufhörlich in die Zweige und Blätter" hineinruft: "O nur noch einmal blinket und leuchtet ihr lieblichen goldnen Schlänglein, nur noch einmal lasst eure Glockenstimmchen hören! Nur noch einmal blicket mich an, ihr holdseligen blauen Augen, nur noch einmal, ich muss ja sonst vergehen in Schmerz und heißer Sehnsucht!"
Die Frau kommentiert das mit den Worten: "Der Herr ist wohl nicht recht bei Troste!"
In E. T. A. Hoffmanns Geschichten tut sich oft eine neue, andere Wahrnehmung auf: Manche bezeichnen sie als Wahnsinn, manche als Erleuchtung.

Je nach Standpunkt des Betrachters sind die Figuren Narren - oder Künstler. Man könnte aber auch wie E.T.A. Hoffmann, der penible Jurist und ironische Schriftsteller, so erzählen, dass die andere Erfahrung, dieser Riss, der sich plötzlich in der geordneten Welt auftut, jedenfalls zum Menschsein dazugehört.

Service

E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf, Verlag Reclam
Peter von Matt: Öffentliche Verehrung der Luftgeister. Reden zur Literatur, Verlag Hanser

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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: E.T.A. Hoffmann 1776 - 1822
Album: E.T.A.HOFFMANN: DOE SONATEN FÜR HAMMERKLAVIER
* Allegro - 3.Satz (00:06:26)
Titel: Sonate in cis-moll für Hammerklavier AV 40
Klaviersonate
Solist/Solistin: Wolfgang Brunner
Länge: 06:26 min
Label: cpo 9993202

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