Ein Geisterschiff in Albanien

12. Dezember 2022, 06:56

Albanien ist anders. Die Albaner selber sagen es, sind stolz darauf und wissen doch, dass dieser Stolz ihr Unglück ist. Viele von ihnen bestehen trotzig darauf, dass ihr Land nicht nur einzigartig, sondern geradezu unvergleichlich sei, aber im nächsten Augenblick klagen sie, dass es nirgendwo so schwer wäre zu leben, zu überleben wie eben bei ihnen.

Im Sommer 2019 war ich in Albanien unterwegs und hatte in der flirrenden Hitze eine Erscheinung, die ich für eine Fata Morgana hielt. Unweit der Gemeinde Roskovec glaubte ich, auf einem entfernten Hügel ein großes Schiff zu sehen, das hoch über dem Meer gestrandet war. Erst aus der Nähe erkannte ich, dass es sich um keine Sinnestäuschung, sondern tatsächlich um ein Schiff handelte, ein Geisterschiff aus Stein. Das gemauerte Ungetüm stand da, in majestätischer Einsamkeit, der Wind ließ im Schiffsbauch eine Tür klappern, das Glas der Bullaugen war herausgebrochen, die blauweiße Farbe abgeblättert.

Später erfuhr ich, dass in den neunziger Jahren drei Brüder, wagemutig aus Verzweiflung, in der Hafenstadt Vlora eines jener Elendsschiffe bestiegen, deren Ziele Brindisi und Bari waren. Sie sind dort nie angekommen, ihnen war das Schicksal so vieler beschieden, deren Schiffe, Boote in der Adria untergingen. Ihnen zu Ehren hat ihre Familie ein Hotel in Schiffsform erbaut. Es kam, wie es kommen musste, von den Touristen tauchte nie einer hier im Landesinneren auf.

Die ganze Familie ist mittlerweile ausgewandert und in alle Richtungen zerstreut. Aber von ihren toten Verwandten wird das steinerne Schiff noch in Generationen künden, wäre es doch zu aufwändig, das massiv gebaute Hotel, das nie eröffnet wurde, abzuwracken.

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Gestaltung

• Alexandra Mantler