Zwischenruf

Motto für eine solidarische Welt

Martin Lintner, katholischer Priester und Professor für Moraltheologie in Brixen, über den Spruch: "Geh' 1000 Schritte in den Mokassins eines anderen"

"Geh' 1000 Schritte in den Mokassins eines anderen, wenn du ihn verstehen willst." Ich erinnere mich, wie dieser Spruch meine kindliche Fantasie angeregt hat. Mokassins, die weichen, warmen Lederschuhe der Indianer - damals war diese Bezeichnung für die indigenen Völker Nordamerikas noch politisch unbedenklich.

Ich stellte mir vor, wie ich mit den Kindern dort im Wald spielte, leichtfüßig durch die Wildnis streifte, Biber und Seeadler beobachtete und den ganzen Tag in der freien Natur verbrachte - ohne die Schulbank drücken oder Hausaufgaben machen zu müssen. Diese etwas kindlich-idyllische Vorstellung vom Leben der Indianerkinder bekam Risse, als ich ein Kinderbuch las. Es ging um zwei Geschwister, die von ihrer Familie getrennt und in eine entfernte Schule geschickt werden. Von Heimweh geplagt beschließen sie, von der Schule wegzulaufen und auf eigene Faust zu ihrer Familie zurückzukehren. Auf diesem beschwerlichen Heimweg haben sie allerlei Hindernisse zu überwinden und Gefahren zu bestehen.

Damals war mir der Ernst dieser Geschichte noch nicht bewusst. Der Hintergrund ist tragisch und dramatisch. In den sogenannten Residential Schools wurden in Kanada von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1990er Jahre Kinder der kanadischen Ureinwohner von ihren Familien und ihren kulturellen Wurzeln entfremdet. Unzählige sind nicht nur psychisch daran zerbrochen, sondern haben es nicht überlebt. Christliche Kirchen waren in dieses System eingebunden. Papst Franziskus hat sich im Vatikan mit Überlebenden und Angehörigen dieser Völker getroffen und sie um Vergebung gebeten. Bei seinem Besuch in Kanada hat er dieses Schulsystem als Völkermord bezeichnet.

Zufällig bin ich vor wenigen Wochen wieder auf den eingangs erwähnten Spruch gestoßen. Er ist dem Gebet eines Weisen entnommen, in dem es heißt: "Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht 1000 Meilen in seinen Mokassins gelaufen bin."

Diese Bitte hat es in sich. Sie macht mir deutlich, dass ich einen anderen Menschen nur dann verstehen kann, wenn ich mich in seine Position versetze und seine Perspektive einnehme. 1000 Meilen, nicht nur Schritte, in den Mokassins eines anderen Menschen gehen heißt, dass ich mich mit seiner Lebensgeschichte vertraut mache, seinen Alltag, seine Sorgen und Freuden kenne, die Welt mit seinen Augen sehe - und bewusst darauf verzichte, ihn in die Schubladen meiner eigenen Vorstellungen einzuordnen.

Das erinnert mich an ein Prinzip in der katholischen Soziallehre, nämlich die Solidarität. Allgemein ist damit die Verantwortung aller für die gemeinsame Sache gemeint. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie betont, dass wir dieser Verantwortung nur gerecht werden können, wenn wir eine vorrangige Option für die Armen treffen. Das heißt: wenn ich die Perspektive der Benachteiligten zu einer Leitkategorie meines Handelns mache und wenn ich aus ihrer Perspektive auch mich selbst und meinen Lebensstil kritisch hinterfrage.

Welche Weisheit steckt doch in diesem einfachen Satz "Geh' 1000 Schritte, nein: Meilen in den Mokassins eines anderen, um ihn zu verstehen", der einst meine kindliche Fantasie beflügelt hatte und heute ein Lebensmotto für eine solidarische Welt sein kann.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Urheber/Urheberin: Toure
Album: Talking Timbuktu
Sega
Ausführender/Ausführende: Ali Farka Toure
Ausführender/Ausführende: Ry Cooder
Länge: 03:10 min
Label: World Circuit WCD 040

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