Hoffnung, Enttäuschung und neue Realitäten

Unter unserem Seelenteppich

Ein akuter Mangel an Arbeitskräften führte dazu, dass Österreich in den 1960er und 1970er Jahren in der Türkei Menschen anwarb, die sich auf das Abenteuer der Migration einlassen wollten. Was diese Menschen erlebten ist Gegenstand einer Forschungsarbeit.

Ein akuter Mangel an Arbeitskräften führte dazu, dass Österreich in den 1960er und 1970er Jahren in der Türkei Menschen anwarb. Frauen und Männer machten sich auf den Weg, ließen alles Bekannte und Vertraute hinter sich und glaubten, in ein Land mit hohem Lebensstandard zu fahren, in dem sie zwar hart arbeiten, aber auch gut verdienen würden.

Was aus diesem Traum der Migrantinnen von damals geworden ist, hat die Innsbrucker Psychologin Hale Sahin, selbst Tochter türkischer Migranten, in einer Forschungsarbeit untersucht. Acht biografische Interviews mit Frauen, die Anfang der 1970er Jahre allein nach Österreich migriert sind, geben tiefen Einblick in die Lebenssituation und Seelenlandschaft der Türkinnen, die alle ursprünglich nur zwei, vielleicht drei Jahre in Österreich bleiben wollten.

"Durch ein Nadelöhr"

Um zur Arbeitsmigration nach Österreich zugelassen zu werden, mussten sich die Türkinnen und Türken einem sehr strengen Auswahlverfahren unterziehen. "Wir gingen durch die Öhre einer Nadel", so beschreibt eine Interviewpartnerin von Hale Sahin, wie klein die Chancen waren, die Tests zu bestehen.

Gar nicht selten kam es vor, dass Ehepaare sich gemeinsam bewarben, aber nur die Frauen das Auswahlverfahren bestanden. Sie mussten dann allein emigrieren, Mann und Kinder zurücklassen, bis diese nach einigen Monaten im Rahmen der Familienzusammenführung nachkommen konnten. Alle acht Frauen, die der Psychologin Hale Sahin ihre Lebensgeschichte erzählt haben, waren in dieser Situation.

Trennung von den Kindern

In Österreich zerplatzte der Traum vom besseren Leben: Wohnen mit vielen anderen Migrantinnen auf engstem Raum und unter schlechten hygienischen Verhältnissen. Akkordarbeit am Fließband unter großem Druck, die Leistung zu steigern. Das Gefühl, allein und fremd zu sein in einem Land mit völlig anderer Kultur und Sprache. Und die schmerzliche Sehnsucht nach der Familie.

Migrationskrise

Es ist ganz normal, dass Menschen durch die Erfahrung der Migration in eine Krise geraten, sagt die Ethnologin und Psychotherapeutin Ruth Kronsteiner. In den verschiedenen Phasen der Migrationskrise wird der Verlust von vertrauten Dingen, Menschen und Gewohnheiten betrauert, und es werden die neuen Erfahrungen auf ihre Brauchbarkeit überprüft.

Wenn diese Phasen nicht konstruktiv durchlebt werden können, ist ein positiver Verlauf der Migration nur schwer möglich. Die Entwertung der Herkunftsgesellschaft oder auch der Aufnahmegesellschaft kann eine Folge einer nicht bewältigten Migrationskrise sein. Schwierigkeiten, sich einzuleben, die Sprache zu erlernen und sich als Teil der Gesellschaft in der "neuen Heimat" zu verstehen, ebenso.

Das Alter wirft neue Fragen auf

Die "Pioniermigrantinnen", wie die Psychologin Hale Sahin sie in ihrem Buch bezeichnet, sind jetzt im Pensionsalter oder kurz davor. Viele von ihnen haben gesundheitliche Probleme, aufgrund der langjährigen körperlichen Arbeit oder wegen der psychischen Belastungen, mit denen sie nicht zurande gekommen sind.

Die Sorgen, die Sehnsucht, "alles haben wir unter unseren Seelenteppich gekehrt", so hat es eine der Interviewpartnerinnen von Hale Sahin formuliert. Jetzt im Alter stellen viele sich die Frage, ob sie doch noch zurückgehen sollen in die Türkei. Jahrelang haben sie davon geträumt, heimzukehren - aber sind sie dort heute noch "daheim"?

Manche gehen zurück und stellen fest, dass sie dort fremd sind. Andere entscheiden sich, zu pendeln - das halbe Jahr hier, das halbe Jahr dort. "Die Rückkehrabsichten hängen stark mit dem Grad des Wohlbefindens in Österreich zusammen", sagt die Ethnologin und Psychotherapeutin Ruth Kronsteiner. "Wichtig ist, dass man sich dieser Frage stellt und nicht in einem Zustand der Entscheidungslosigkeit verharrt."

Starke Türkinnen

Türkische Frauen würden heute oft als unselbständig und vom Mann abhängig gesehen, sagt die Psychologin Hale Sahin. Mit ihrer Forschungsarbeit möchte sie zeigen, dass die Migrantinnen von damals mutige Frauen sind, die in ihrem Leben viel geleistet haben. Frauen, die, obwohl sie in Österreich viel Leid und Benachteiligung erfahren haben, etwas aus ihrem Leben gemacht haben.

Hör-Tipp
Dimensionen, Dienstag, 25. April 2006, 19:05 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Hale Sahin, "Unter unserem Seelenteppich, Lebensgeschichten türkischer Frauen in der Emigration", Studienverlag, ISBN 3706542285

Ruth Kronsteiner, "Kultur und Migration in der Psychotherapie", Verlag Brandes & Apsel, ISBN 3860997726