Religionszwist mit sozialen Hintergründen

"Wir wollen hier nur in Frieden leben"

Vor einem Monat verübten Sikhs einen Anschlag auf den Tempel der Ravidasi-Gemeinde in Wien, das ist eine Abspaltung der Sikh. Welcher Konflikt verbirgt sich hinter diesem Attentat? Und wie sieht das Alltagsleben der Einwanderer aus dem Punjab aus?

Am 24. Mai 2009 ist der Tempel der Ravidasi-Gemeinschaft in Wien nahe dem Westbahnhof voll besetzt, denn das Oberhaupt der Gemeinschaft und sein Stellvertreter sind nach Wien gekommen. Plötzlich schießt ein Sikh mit Turban mit einer Pistole auf die Gurus. Die Gläubigen stürzen sich sofort auf den Angreifer. Fünf weitere Sikh-Attentäter sind mit Dolchen und Messern bewaffnet und kommen ihrem Anführer zur Hilfe.

Die Folgen des Attentats

Einige Tempelbesucher schlagen mit Mikrophonständern, Pfannen und Nudelhölzern auf die Attentäter ein und versuchen, dem Schützen die Pistole zu entreißen. Dieser wird dabei schwer verletzt und befindet sich bis heute in künstlichem Tiefschlaf. Die anderen fünf Tatverdächtigen werden von der Polizei festgenommen und befinden sich derzeit in Untersuchungshaft. Einer der Gurus starb im Krankenhaus, der andere wurde verletzt, ebenso wie 15 weitere Tempelbesucher.

Die Nachricht des Anschlags rief in Indien gewaltsame Proteste der Anhänger und Anhängerinnen der Gurus hervor. Straßen und Eisenbahnen wurden blockiert, Fahrzeuge in Brand gesetzt, insgesamt verloren fünf Menschen bei den Unruhen ihr Leben, es kam zu zahlreichen Festnahmen.

Heiliges Buch entehrt?

Wer sich in den beiden Wiener Sikh-Tempeln nach den Motiven der Attentäter erkundigt, bekommt immer die gleiche Antwort. Die Attentäter habe es gestört, dass man im Ravidasi-Tempel das heilige Buch der Sikhs nicht ehrenvoll behandelt hätte. Die Ravidasis hätten den Gurus aus Indien einen ehrenvolleren Platz eingeräumt als dem heiligen Buch, das für die Sikhs der einzige Guru ist. Der letzte der historischen zehn Sikh-Gurus hatte verfügt, dass in Zukunft nur das heilige Buch - eine Hymnensammlung - als lebender Guru verehrt werden soll.

Gerüchte

Im Ravidasi-Tempel hat man inzwischen die blutbefleckten Teppiche durch neue ersetzt. In der Mitte des Raumes steht das Podest mit Baldachin für das heilige Buch. Selbst wenn das Oberhaupt der Gemeinschaft anwesend sei, werde immer zuerst das heilige Buch verehrt, erklärt Tempel-Obmann Som Dev und weist damit die Vorwürfe, hier sei das heilige Buch der Sikhs entehrt worden, zurück: "Das ist eine Lüge! Viele Leute glauben dem, was sie über uns hören, aber sie waren nie hier. Viel Sikhs hassen uns wegen unserer niedrigen Kaste."

Sikhs und Ravidasis

In der Presse war häufig von "Sikh-Tempel" als Ort des Anschlags zu lesen. Doch die Ravidasis sind gerade dabei, sich von den Sikhs abzuspalten. Sie verehren in erster Linie den mittelalterlichen indischen Mystiker Ravidas. Von Ravidas sind 41 Hymnen im Guru Granth Sahib, dem heiligen Buch der Sikhs, überliefert. Er gehörte der Chamar-Kaste der Gerber und Schuster an, die am untersten Ende der Kastenhierarchie steht, da sie die als unrein betrachtete Haut toter Tiere verarbeiteten.

Chamars mussten am Dorfrand leben, besaßen kein eigenes Land und durften den Dorf-Brunnen nicht benützen. Ihre Berührung galt als rituell verunreinigend. Seit der Unabhängigkeit Indiens ist die "Unberührbarkeit" offiziell abgeschafft. Die ehemaligen "Unberührbaren" nennen sich heute "Dalit". Das bedeutet soviel wie "Zerbrochener".

Kastensystem auch bei den Sikhs

Obwohl der Sikh Gründer Guru Nanak, der im 15. Jahrhundert lebte, das hinduistische Kastensystem abgelehnt hat, achten viele der höherkastigen Sikhs bei der Suche nach Heiratspartnern und -partnerinnen für ihr Kinder immer noch auf die Kastenzugehörigkeit.

Dalits bauen eigene religiöse Zentren

Die Land besitzenden sogenannten Jat-Sikhs haben die Dalits Jahrhunderte lang unterdrückt und ausgebeutet. Doch seit den 1970er und 80er Jahren beginnen die Dalits, sich verstärkt gesellschaftlich zu behaupten und auf Veränderungen zu drängen.

Auch im religiösen Bereich suchen die Dalits nach einer neuen Identität. Während die Dalits lange die Sikh-Tempel besuchten, haben sie im Laufe der letzten Jahrzehnte zahlreiche eigene religiöse Zentren gebaut, in welchen Ravidas besondere Verehrung zuteil wird. Der Sitz der beiden nach Wien gereisten Gurus, Dera Sachkhand Ballan, ist das einflussreichste Zentrum der Ravidasi-Gemeinschaft. Einen guten Teil seiner Einkünfte verdankt es den vielen Anhängern und Anhängerinnen im Ausland.

Ehemalige Eliten verlieren ihre Macht

Tendenziell hat sich die ökonomische Situation der einst dominanten Jat-Sikhs verschlechtert. Viele Familien haben drei oder vier Söhne, die sich das Land teilen müssen. Das heißt, schon nach wenigen Generationen treten große Schwierigkeiten auf, die stark gestiegenen Ansprüche an den Lebensstandard durch die Landwirtschaft zu befriedigen.

Die Situation vieler Ravidasis hingegen hat sich verbessert. Die Stadt Jalandhar, in deren Nähe das Zentrum der zwei nach Wien gereisten Gurus liegt, und wo auch die Ausschreitungen nach dem Anschlag in Wien stattgefunden haben, hat sich zum Zentrum einer einträglichen Lederwarenindustrie entwickelt. Von dort werden zum Beispiel Schuhe nach Österreich exportiert.

Viele Spenden für die Dalit-Tempel und Sozialprogramme

Dass sich nun die Dalits auch im religiösen Bereich emanzipieren, bedroht die Vormachtstellung der traditionellen Eliten, erklärt der Religionswissenschaftler Lothar Handrich: "Die Ravidasis erhalten in den letzten Jahren großen Zulauf und auch viele Spenden, da sie Krankenhäuser und Schulen für die Ärmsten einrichten. Dadurch fühlen sich die etablierten Sikhs bedroht, denn es geht um viel Geld."

Das Attentat in Wien hat das Bedürfnis nach Abgrenzung noch verstärkt. In Österreich überlegen die Ravidasis nun, die Anerkennung als eigenständige Religionsgemeinschaft zu beantragen.

Schwierige Ermittlungen

Bei neun parallelen Hausdurchsuchungen im Umfeld der mutmaßlichen Täter wurden zahlreiche Datenträger und Waffen sichergestellt. Die Polizei versucht nun herauszufinden, ob es Hintermänner gibt, etwa eine fundamentalistische Sikh-Gruppierung.

Es könnte sich jedoch auch um die Tat perspektivloser junger Männer handeln, die sich radikalisiert haben. Die Ermittlungen, so deutet Polizeisprecher Michael Takacs an, werden sich wohl noch über mehrere Monate erstrecken. "Die Dimensionen sind so gewaltig, dass es einige Zeit dauern wird, um das seriös aufklären zu können."

Hör-Tipp
Journal Panorama, Dienstag, 23. Juni 2009

Links
Sachkhandballan - Ravidasi-Gemeinschaft in Jalandhar
Shri Guru Ravidas Mission London
Gemeinschaft der Sikh in Österreich