Eröffnung der Salzburger Festspiele

Festrede von Daniel Barenboim

Ins Zentrum seiner Festrede stellte Daniel Barenboim den Wunsch nach Frieden in Israel. Er forderte Israelis und Palästinenser auf, "aufeinander zuzugehen", um so Frieden zu ermöglichen. Hier die Rede im Wortlaut.

Festrede, gehalten von Daniel Barenboim

Neun Jahre war ich alt, als ich im Sommer 1952 zum ersten Mal nach Salzburg kam. Es war überhaupt mein erster Aufenthalt außerhalb von Buenos Aires, meine erste Europareise und meine erste Begegnung mit dem so außerordentlich reichen musikalischen Leben der Salzburger Festspiele.

In den Tagen vor Anbruch des Jet-Zeitalters dauerte die Reise nach Europa entsetzlich lange. Wir waren drei Tage lang unterwegs, erst mit dem Flugzeug - einer Propellermaschine natürlich - dann mit der Eisenbahn, und als wir endlich in Salzburg eintrafen, war ich völlig erschöpft. Dennoch fiel mir, als wir am Festspielhaus - dem heutigen Haus für Mozart - vorbeikamen, ein Plakat auf, das eine Aufführung der "Zauberflöte" ankündigte. Ich fragte meine Eltern, worum es sich dabei handle, und sie erklärten mir, dass es eine Oper von Mozart sei.

Natürlich gab es keine Karten mehr, doch meine Mutter, die eine sehr unternehmungslustige Frau ohne den geringsten Anflug von Schüchternheit war, meinte, ich sollte doch auf eigene Faust versuchen, irgendwie ins Festspielhaus reinzukommen. Als der kleine Knabe, der ich war, schaffte ich es tatsächlich, mich unbemerkt hineinzuschleichen. Ich entdeckte eine leere Loge, in der ich wie ein kleiner Prinz Platz nahm.

Die Musiker stimmten ihre Instrumente, Karl Böhm schritt ans Dirigentenpult - und ich schlief prompt in der dunklen, gemütlichen Loge ein. Einige Zeit später wurde ich wieder wach und da ich nicht wusste, wo ich mich befand und wo meine Eltern waren, fing ich in meiner Verwirrung zu weinen an. Ein Logenschließer eilte herbei und beförderte mich umgehend nach draußen - und damit war mein kleines Abenteuer zu Ende.

Als ich Jahre später mit den Wiener Philharmonikern unter Karl Böhm auftrat, erzählte ich ihm diese Anekdote aus meiner Kindheit, was vielleicht nicht klug war, denn er war alles andere als erfreut darüber, dass jemand es fertig gebracht hatte, bei einem seiner Auftritte einzuschlafen. Mein jugendliches Alter war für ihn keine Entschuldigung.

Natürlich traf ich nach diesem Anfangserlebnis damals, 1952, wie auch in späteren Jahren, in Salzburg mit einigen der führenden Musiker der Welt zusammen. Es war ein Ort, an dem man Leuten begegnen konnte, die Brahms noch persönlich gekannt hatten; die geistigen Nachfolger der größten Musiker der Vergangenheit waren anwesend, Zeugen einer anderen Ära. Ich lernte Edwin Fischer kennen und hörte ihn - ein Pianist, der bis zum heutigen Tag inspirierend auf mich wirkt - und ich selbst spielte bei jenem ersten Aufenthalt im Jahr 1952 im Rahmen des Abschlusskonzerts von Igor Markevitchs Dirigierklasse ein Konzert von Bach.

1954 traf ich mit Furtwängler zusammen und spielte für ihn; er ließ mich im Orchestergraben neben dem Cembalo sitzen und von dort aus nicht nur Proben zu "Don Giovanni" verfolgen, sondern auch Aufführungen der Oper beiwohnen. Es war alles ungeheuer bereichernd für einen Jungen meines Alters, und der Geist, der in jenen Tagen in Salzburg herrschte, hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck bei mir.

Dieser besondere Geist war unter anderem auch der engen Kooperation zwischen den Vorstellungen der Festspiele und den Kursen am Mozarteum zu verdanken. So wurde Markevitch zum Beispiel 1955 einmal krank und konnte die Dirigierklasse nicht selbst leiten; wir Schüler hatten aber das Glück, dass George Szell, Karl Böhm und Dimitri Mitropoulos zugegen waren, von denen jeder den Unterricht für einen Tag übernahm. Hier in Salzburg durfte ich auch die ersten Konzerte und Opernaufführungen mit den Wiener Philharmonikern miterleben.

Es war das erste große Orchester, das ich jemals spielen hörte, und sein einzigartiger Klang und das außergewöhnlich musikalische Gespür seiner Mitglieder hat seitdem niemals aufgehört, mich zu faszinieren und zu inspirieren.

Von Mozart lernte ich genauso viel wie von Furtwängler und den Konzerten und Aufführungen, die ich damals bei den Salzburger Festspielen besuchte. Kein anderer Komponist lässt Stimmungslagen so deutlich werden, auch indem er sie mit den ihnen jeweils entgegengesetzten kombiniert, und das macht die von Mozart zusammen mit da Ponte geschriebenen Opern zu solchen Meisterwerken. "Don Giovanni" ist das perfekte Beispiel dafür; Mozart und da Ponte haben das Werk als "drama giocoso" bezeichnet, und dieser Terminus impliziert schon, dass eine Situation von einem subjektiven Standpunkt aus - in diesem Fall dem Donna Elviras - als tragisch empfunden, objektiv aber komisch sein kann und umgekehrt. Bei Mozart ist das Komische immer von einem düsteren, unangenehmen Unterton begleitet, während das Tragische immer einen komischen oder gar lächerlichen Aspekt besitzt.

Salzburg vermittelte mir nicht nur musikalische Entdeckungen, sondern es war auch der Ort, an dem mein Bewusstsein für die Geschichte des jüdischen Volks in Europa erwachte. Mit neun hatte ich noch nie etwas vom Holocaust gehört. Zu der Zeit, als ich Furtwängler und Fischer kennenlernte, erfuhr ich auch erstmals, was während des Zweiten Weltkriegs in Europa geschehen war.

Mein Vater lehnte sogar 1954 eine Einladung Furtwänglers an mich, mit den Berliner Philharmonikern aufzutreten, mit der Begründung ab, für einen jüdischen Jungen sei es - neun Jahre nach dem Krieg - noch zu früh, um nach Deutschland zu reisen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft, dass ich nicht begriff, was für ein Unterschied in dieser Hinsicht zwischen Deutschland und Österreich bestehen sollte, und mich später wunderte, dass der Staat Israel es als statthaft ansah, diplomatische Beziehungen zu Österreich zu unterhalten, nicht aber zu Deutschland. Ich fragte meinen Vater danach, erhielt aber nie eine zufriedenstellende Antwort.

Meine Begeisterung über so viel wundervolle Musik und mein Entsetzen über das Schicksal der europäischen Juden standen in einem so scharfen Gegensatz zueinander wie kontrapunktische Stimmen in einer Mozartoper, und wenn ich einen Blick auf jene Zeit zurückwerfe, stelle ich fest, dass meine Erinnerungen an beide Arten des "Erwachens" untrennbar voneinander sind. Genau wie bei Mozart mischte sich Trauer in die Freude, während das Entsetzen von Fröhlichkeit ein wenig abgemildert wurde.

Dass ich gleichzeitig tief gehende musikalische Erfahrungen machte und mit einer Periode der Unmenschlichkeit konfrontiert wurde, ließ mir etwas bewusst werden, das in der Folge beinahe die Züge einer idée fixe bei mir annahm. Es öffnete mir nämlich die Augen für das Paradox, dass Musik uns sowohl die Möglichkeit bietet, die Hässlichkeit der Welt zu vergessen, als auch die Fähigkeit verleiht, die Welt und ihre Gräuel zu verstehen und zu transzendieren.

Mit anderen Worten: Musik ist alles andere als ein Elfenbeinturm. Max Reinhardt schrieb in seinem Festspielkonzept aus dem Juli 1918, dass Salzburg den idealen Veranstaltungsort für die Festspiele abgäbe, die er ins Leben rufen wollte. Ihm zufolge war die Stadt geradezu dazu berufen, "ein Wallfahrtsort zu werden für die zahllosen Menschen, die sich aus dem blutigen Gräuel dieser Zeit nach den Erlösungen der Kunst sehnen."

Die Uraufführung des "Jedermann" drohte von antisemitischen Kundgebungen unterbrochen zu werden, und nur siebzehn Jahre nach den ersten Festspielen sah Reinhardt sich gezwungen, vor einem blutigen Grauen anderer Art zu fliehen.

Heute, neunzig Jahre nach den ersten Festspielen und fünfundsechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erinnern seine Worte uns an die Ideale, die ihn zur Gründung der Festspiele anregten. Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal strebten nach nichts anderem, als Österreichs nationale und kulturelle Identität nach dem großen Krieg durch die Kunst neu zu bestimmen, den Weg von blutiger Zerstörung zu künstlerischem Schaffen zu weisen, als einem Mittel, das eigene Land und vielleicht ganz Europa zu einen. Sie glaubten inbrünstig an die umwandelnde Kraft von Kunst, vor allem von Musik und von Theater. Während der Kriegsjahre mühten sie sich unablässig, Unterstützung für ihr Projekt zu erhalten, als ob die Geburt der Festspiele unerlässlich für die Geburt von Frieden sei.

Jeder, der einen Funken Anstand besitzt, wird heute sagen, dass er Frieden auf der Welt will. Doch wie kann man sagen, dass man Frieden wünscht und gleichzeitig aktiv Schritte unternehmen, die Aggression auslösen, wenn nicht gar zu einem ausgewachsenen Krieg führen müssen? Wie kann man verkünden, dass man Frieden will, ohne allen Menschen die gleichen Grundrechte einzuräumen? Wie ist es möglich zu erklären, man wünsche Frieden, und gleichzeitig zuzulassen, dass fremdenfeindliche politische Bewegungen überall in Europa immer mehr Zulauf bekommen?

Der neunzigste Jahrestag von Festspielen, die als ein Gegenmittel zum Krieg ersonnen wurden, scheint mir der gegebene Anlass, um darüber nachzudenken, warum wir de facto keinen Frieden haben. Es ist der Anlass, über das Ziel dieser Festspiele nachzudenken und darüber, welcher Natur die Verbindung zwischen Kultur und den existenziellen Problemen der Welt ist.

Es ist der richtige Zeitpunkt, sich des Einflusses bewusst zu werden, den ein internationales Festival von dieser Bedeutung, von solch hohem künstlerischem Niveau und mit solch einer illustren Geschichte haben könnte. Und vor allem ist es der richtige Zeitpunkt, einmal zu überlegen, welche Verantwortung sich aus einem solchen Einfluss ableitet. Diese Verantwortung besteht nämlich darin, eine Quelle der Stärke und der moralischen Autorität darzustellen, mit deren Hilfe man extremistische, fundamentalistische Ideologien de-radikalisieren oder ihnen entgegenwirken kann. Und sie besteht auch darin, ein Forum für Gespräche über die notwendigen Voraussetzungen für Frieden abzugeben.

Wie oft hören wir von "Friedensprozessen" reden, von "Friedensgesprächen", "Friedensverhandlungen" und Ähnlichem! Jedermann, von Präsident Ahmadinedschad bis Präsident Obama, redet heutzutage über Frieden. Doch wenn jedermann Frieden will, warum sind wir dann noch so weit davon entfernt, ihn wirklich herbeizuführen?

Richard von Weizsäcker näherte sich einer Antwort auf diese Frage an, als er in einer Rede vor dem deutschen Bundestag vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sagte: "Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen." Das ist eine Erkenntnis, die auf die unbequeme Wahrheit hinweist, dass das Wort "Friede" mehr als einen Zustand der Nicht-Aggression bedeutet.

Die Wurzel des hebräischen Wortes für Friede, shalom, ist auch die Wurzel des Wortes für Perfektion, shlemut, und das Wissen um die linguistische Verwandtschaft der beiden Wörter könnte uns zu der Erkenntnis verhelfen, welches die wirklichen Voraussetzungen für Frieden - vor allem im Nahen Osten - sind. Friede verlangt Perfektion, nämlich die Perfektion von Gerechtigkeit, Strategie und Mitgefühl.

Man könnte leicht annehmen, dass Gerechtigkeit, Strategie und Mitgefühl nicht miteinander kompatibel sind. Man kann versucht sein, Mitgefühl zugunsten von Strategie zu opfern, oder glauben, dass Festhalten an Gerechtigkeit nur hinderlich für strategisches Denken ist. Das muss aber nicht so sein; tatsächlich kann man sich Gerechtigkeit, Mitgefühl und Strategie als drei Äste von ein und demselben Baum vorstellen. Friede kann nur erreicht werden, wenn eine für alle Beteiligten günstige Lösung gefunden werden kann, eine Lösung, die für alle gerecht, in strategischer Hinsicht für alle von Vorteil und in Bezug auf alle moralisch vertretbar ist. Zu warten stellt in keinem Fall eine Option dar, denn wenn man wartet, gestattet man es bloß ungeduldigen, militanten Elementen, die Oberhand zu gewinnen.

Ich habe schon so oft über das Schicksal des israelischen und des palästinensischen Volkes gesprochen, dass ich beinahe das Gefühl habe, in einer Art von endlosem Rondo zu Problemen des Nahen Ostens Stellung zu nehmen und dabei immer wieder auf jene nach wie vor nicht begriffene Tatsache zurückzukommen, dass die Geschicke dieser beiden Völker unlösbar miteinander verwoben sind und die Möglichkeit, ihrer Region Frieden zu bringen, einzig und allein in ihren eigenen Händen liegt und nicht in denen irgendwelcher externer Mächte, wie einflussreich diese auch sein mögen.

Es ist ein Konflikt, der mit keinem anderen vergleichbar ist. Er unterscheidet sich von anderen politischen Konflikten, bei denen es meistens um Grenzziehungen geht oder um unentbehrliche Rohstoffe wie Erdöl oder Wasser, und die entweder auf diplomatischem Weg oder mit militärischen Mitteln beendet werden können. Es ist ein menschlicher Konflikt zwischen zwei Völkern, die beide felsenfest von ihrem Recht überzeugt sind, ein und dasselbe winzige Stückchen Land bewohnen zu dürfen. Es ist ein regionaler Konflikt, welcher aber die Stabilität der Machtstrukturen, wie sie zurzeit weltweit bestehen, bedroht.

"Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen." Wie kann man auf den anderen, in diesem Fall das andere Land zugehen, wenn man nicht auf die Gesamtheit der dort existierenden politischen und anderweitigen Gruppierungen zugeht? Wie kann man das tun, ohne den anderen als gleichgestellt anzusehen und ihn gerecht zu behandeln?

Wenn Israel aufrichtig nach Frieden verlangt - nach einem echten, dauerhaften Frieden und nicht einfach nur nach einem oberflächlichen, der eine Plattform für vage Verhandlungen schafft -, dann wird es, um auf Palästina zugehen zu können, alle dort existierenden Fraktionen anerkennen müssen. Die wirklich brennende Frage ist nicht die, ob die Lösung in der Erschaffung eines Zweivölkerstaats oder in der eines legitimen und souveränen palästinensischen Staats besteht. Die wirklich aktuelle Frage ist die, ob beide Parteien willens sind, aufeinander zuzugehen.

"Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen." Sich dem anderen anzunähern ist eine langfristige Strategie, eine, die sich in der Zukunft auszahlen kann; zu warten, bis der andere zu einem kommt, ist eine kurzsichtige Taktik, eine, die seit mehr als sechzig Jahren erfolglos geblieben ist. Man hat oft gesagt, dass Gerechtigkeit Opfer verlangt, aber was für ein Opfer stellt die Aufhebung der Besetzung palästinensischen Gebiets und der Abriss jüdischer Siedlungen dar?

Die Musik hat mir viele Einsichten vermittelt, die man auch auf das Leben anwenden kann. Eine davon ist die, dass das zeitweise totale Vereinnahmt-werden durch etwas, das ungeheuer schön oder absolut unentbehrlich zu sein scheint, einem im nächsten Augenblick schon übertrieben oder sogar verkehrt vorkommen kann. Es ist in der Tat möglich, unmittelbares Verlangen und eine langfristige Strategie miteinander zu vereinen. Der Musiker muss zudem in der Lage sein, was Furtwängler "fernhören" genannt hat. Häufig ist es erforderlich, auf das, was einem in einem bestimmten Moment ganz und gar unentbehrlich zu sein scheint, zu verzichten, um die lange Linie der Musik aufrechtzuerhalten. Mit anderem Worten: Man muss ein unmittelbar empfundenes Verlangen mit Blick auf die Zukunft aufgeben, muss es opfern.

Die Musik hat mich gelehrt, an meiner eigenen subjektiven Sicht der Gegenwart festzuhalten, gleichzeitig aber nicht in dieser Sichtweise befangen zu sein, sondern gewissermaßen aus ihr herauszutreten und die objektiven, weitreichenden Folgen zu bedenken, die mein spontanes, einem Impuls folgendes Handeln haben könnte.

Es braucht wohl nicht eigens gesagt zu werden, dass die Folgen, welche sich daraus ergeben, dass man bei einem Musikstück einen besonders schönen Augenblick zu sehr in die Länge zieht, nicht mit den Konsequenzen verglichen werden können, die entstehen, wenn man die Gelegenheit versäumt, einen Weg zum Frieden zu eröffnen. Doch was die Musik einen lehrt, kann auch auf den politischen Bereich angewandt werden: Verzicht von Israels Seite aus auf das, was im Augenblick unentbehrlich zu sein scheint, wird am Ende zu seiner eigenen Rettung beitragen.

Die Alternative ist überhaupt keine; es gibt keine andere Lösung, wenn der Staat Israel eine Zukunft haben will und wenn die Palästinenser irgendwann in den Besitz ihrer Grundrechte gelangen sollen.

Im Lauf seiner gesamten Geschichte ist das jüdische Volk wegen seiner hohen Moral, seines Gerechtigkeitsempfindens und seiner Intelligenz sowohl bewundert, als auch verachtet worden. Jetzt ist es an der Zeit, diese Eigenschaften wieder zu entdecken, sich um eine universelle Moral zu bemühen, eine Moral, die wir nicht nur auf uns selbst anwenden, sondern auf alle Völker, einschließlich des palästinensischen. Spinoza, Maimonides und Moses Mendelsohn interpretierten die jüdische Moral immer in einem universellen Kontext. Das sind die Denker, die jetzt unsere Vorbilder sein müssten.

Frieden ist teuer. Doch keinen Frieden zu haben, kommt noch teurer und führt in vielerlei Beziehung zu großer sinnloser Vergeudung. Bis beide Parteien dies erkannt haben, werden sie den unvergleichlich höheren Preis des Kriegs zahlen - unvergleichlich höher, weil sie ihn in einer Währung, die völlig unakzeptabel ist, zahlen: in Menschenleben.

Ich fühle mich geehrt, auf dieser Bühne stehen und die Eröffnungsrede zu diesen großartigen Festspielen halten zu dürfen. Ich bin Jürgen Flimm dankbar dafür, dass er es im Lauf der letzten Jahre immer wieder für angebracht ansah, das West-Eastern Divan Orchestra zu Darbietungen einzuladen, womit er unser Eintreten für einen Dialog zwischen den beiden Völkern unterstützt und eine Rückverbindung zu den pazifistischen Idealen der Gründer des Festspiele herstellt. Er kam und kommt so unserem Wunsch entgegen, zu zeigen, wozu die Menschen des Nahen Ostens fähig sind, wenn sie vereint zusammenstehen.

Ich bin für die mir erwiesene Ehre und die erwähnten Gesten der Unterstützung unendlich dankbar. Ich bin dankbar dafür, dass meine Worte und Ideen denselben Leuten, die auch in meine Konzerte kommen, um mich als Dirigent oder Pianist zu erleben, etwas bedeuten. Dennoch empfinde ich Schmerz. Ich fühle mich persönlich zerrissen von jenem Bruch, der zwischen Israelis und Palästinensern besteht, demselben Bruch, der auch Israel daran hindert, eine praktikable Lösung für die Zukunft zu finden. Nichts, was ich sage, kann diesen Bruch heilen, keine Sonate, Symphonie oder Oper kann die tiefe Kluft zwischen zwei Völkern, die nicht willens sind, die notwendigen Schritte zur gegenseitigen Annäherung zu machen, schließen.

Jemand muss das Schweigen brechen. Ein Missklang hängt seit Jahrzehnten in der Luft, und es wird mehr als eine Stimme nötig sein, um diese Dissonanz aufzulösen.

"Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen."

Wir haben schon viel zu lange gewartet.

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