Biographie eines tragischen Helden

Simon Wiesenthal

Schon vor der Veröffentlichung hat Tom Segev Biographie über den sogenannten Nazijäger Simon Wiesenthal für Aufregung gesorgt. So werden Wiesenthals zeitweilige Mitgliedschaft beim Mossad, die Kontroverse mit Kreisky und seine Position in der Waldheim-Affäre thematisiert.

Tiefgehender Konflikt

Ein älterer Mann mit einem kleinen Schnurbart sitzt vor einer Wandkarte mit den Standorten der Konzentrationslager, richtet seinen Blick in die Kamera und bricht in Tränen aus. Er könne mit den Erinnerungen an den Holocaust leben, schluchzt er, auch mit den Drohungen von Antisemiten und Neonazis. Aber wie solle er mit den Anschuldigungen leben können, er habe mit den Nationalsozialisten kollaboriert, wenn diese von einem Juden kommen?

Der alte Mann war Simon Wiesenthal - der Journalist, der ihn 1975 zusammen mit einem Kollegen vom israelischen Fernsehen befragte, war Tom Segev. Nach Wien reiste er, um über einen erbitterten Kampf zwischen zwei Juden zu berichten, der weltweit Beachtung fand: Simon Wiesenthal gegen Bruno Kreisky.

Diese einzige Begegnung veranlasste den renommierten israelischen Historiker Tom Segev dazu, die erste vollständige Biographie Wiesenthals zu verfassen, in der er auch jene Auseinandersetzung in historischen Kontext setzt

Diese politische Gegnerschaft bedrohte weder Wiesenthals Identität als Österreicher noch als Jude, weshalb Wiesenthal gut damit leben konnte. Kreisky hingegen konnte nicht mit Wiesenthal leben: Er betrachtete ihn als Feind. Denn Wiesenthal stellte eine Bedrohung für Kreiskys österreichische Identität dar. Als "Ostjude" erschwerte er es dem Juden Kreisky, die Bürger seines Landes davon zu überzeugen, dass er einer von ihnen war, ein echter Österreicher wie sie.

Gründliche Recherche, brisante Dokumente

Tom Segev legt eine Biographie vor, die sich fast ausschließlich auf Unterlagen stützt. Er erhielt als Einziger uneingeschränkten Zugang zu Wiesenthals persönlichem Nachlass und erkämpfte sich den Zugang zu mehreren Archiven, darunter das der Bruno Kreisky Stiftung, der Zentralstelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen und des israelischen Auswärtigen Amtes.

In Jerusalem fand er brisante Dokumente über den erbitterten Konflikt zwischen Wiesenthal und dem früheren Bundeskanzler Bruno Kreisky, der Wiesenthal bespitzeln ließ. Der damalige israelische Botschafter in Wien, Avigdor Dagan, schrieb über Kreisky:

Wo immer von Juden und Israel die Rede ist, haben wir es mit einem instabilen und nicht normal denkenden Menschen zu tun, einem schweren Fall von Hassliebe, die an Schizophrenie grenzt.

Tom Segev wirft dem früheren Bundeskanzler vor, die Verachtung für Juden, die wie Wiesenthal aussahen und sprachen, zu legitimieren. Zu seinen brisanten Enthüllungen gehört ein Bericht aus dem Jahre 1973. Darin erzählte Kreisky dem israelischen Botschafter in Wien, dass ein hochrangiger ägyptischer Diplomat ihm zwei Tage vor dem Jom-Kippur-Krieg berichtet hätte, dass Ägypten Israel binnen drei Monaten angreifen wird.

Israel hat in diesem Überraschungskrieg über 2.000 Soldaten verloren. Kreisky warnte die Israelis nicht, weil er die ägyptische Warnung nicht ernst nahm und mit seinem Wahlkampf beschäftigt war.

Loyalität zu Israel

Segev hegt Sympathie für Wiesenthals Detektivarbeit und für seine humanistische Auffassung vom Holocaust als einer menschlichen und keiner reine jüdischen Tragödie. Der Autor würdigt Wiesenthals Einsatz für Menschenrechte, äußert jedoch auch Kritik:

Bei der Vielzahl von Themen, die ihn über die Jahre beschäftigten, ist zudem sein Schweigen angesichts der fortgesetzten israelischen Menschenrechtsverletzungen an den Palästinensern augenfällig

Aus Wiesenthals früherem Leben lässt sich seine fast blinde Loyalität zu Israel verstehen. Er wuchs in Ost-Galizien auf, einem Teil der k.u.k. Monarchie, überlebte ein ukrainisches Pogrom, die polnische und sowjetische Besatzung sowie fünf deutsche Konzentrationslager.

Als die US-Soldaten ihn 1945 im KZ-Mauthausen befreiten, war er allein auf der Welt: krank, schwach, abgemagert und ohne Eltern, Verwandte und Freunde. Zur dramatischen Wiederbegegnung mit seiner Frau kam es erst Monate später. Zehn Tage nach der Befreiung übergab er den Amerikanern eine Liste von Nazi-Verbrechern: "Die Suche nach allen Mördern seines Volkes ist für ihn Lebensaufgabe geworden", schreibt Segev.

Zusammenarbeit mit Geheimdiensten

Einen Halt fand der staatenlose Flüchtling beim amerikanischen Geheimdienst. Wiesenthal unterstützte die zionistischen Emissäre dabei, jüdische Flüchtlinge nach Palästina zu bringen. 1948 wurde er israelischer Agent und später stellte ihm der Mossad einen israelischen Pass aus, obwohl er kein israelischer Staatsbürger war. Seine Auftraggeber interessierten sich besonders für flüchtige Nazis in arabischen Ländern, insbesondere für deutsche Raketenwissenschaftler, die für Ägypten arbeiteten.

Zusammen mit seinen israelischen Freunden organisierte Wiesenthal bereits Ende 1948 die Entführung Adolf Eichmanns, der nach seiner Flucht aus einem Gefangenenlager zu Silvester seine Familie in Altaussee im Salzkammergut besuchen wollte. Doch ein israelischer Agent verplapperte sich und Eichmann wurde rechtzeitig gewarnt. Bald begann der Kalte Krieg und der Nazi-Jäger Wiesenthal blieb auf sich allein gestellt:

Faktisch gesehen war Wiesenthals Frustration so groß, weil nicht nur die Amerikaner, Briten, Deutschen und Österreicher die Verfolgung der Kriegsverbrecher vernachlässigten, sondern auch jüdische Institutionen.

Der Fall Waldheim

Mit der jüdischen Gemeinde in Wien führte Simon Wiesenthal erbitterte Kämpfe. Er stellte sich gegen den Jüdischen Weltkongress auf die Seite Kurt Waldheims und fungierte sogar als sein Berater während des Präsidentschaftswahlkampfes 1986. Wiesenthal glaubte Waldheim, ohne seine Militärkarriere genau überprüft zu haben.

Er kannte und schätzte Waldheim schon lange und unterstützte ihn auch politisch. Seine Nähe und sein direkter Zugang zum Generalsekretär der Vereinten Nationen schmeichelten Wiesenthal.

Erst nach Waldheims Wahlsieg distanzierte sich Wiesenthal von ihm. Zu spät: 1986 blieb Wiesenthal nur Anwärter für den Friedensnobelpreis, weil das Nobelpreiskomitee einen unumstrittenen Preisträger bevorzugte. Die Höhen und Tiefen dieses tragischen Helden würdigt dieses große spannende Werk.

Service

Tom Segev, "Simon Wiesenthal. Die Biographie, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, Siedler Verlag

Buchpräsentation sowie Michael Kerbler im Gespräch mit Tom Segev, Mittwoch, 15. September 2010, 18:30 Uhr, Jüdisches Museum Wien, Eintritt frei, um Anmeldung wird gebeten.

JMW - Buchpräsentation und "Zeitgenossen im Gespräch"
Random House - Siedler

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