Neue Biographie von Historiker Tom Segev

"Mossad-Agent" Simon Wiesenthal

Eine Biographie über den sogenannten Nazijäger Simon Wiesenthal könnte in Österreich Wellen schlagen. Sie enthüllt, dass Wiesenthal einige Zeit ein Agent des israelischen Geheimdienstes Mossad war. Zudem werden seine Kontroverse mit Kreisky und seine Position in der Waldheim-Affäre thematisiert.

Mittagsjournal, 06.09.2010

"Österreich kann dankbar für Wiesenthal sein"

Wenn Simon Wiesenthal Geld und Unterstützung vom israelischen Geheimdienst Mossad bekommen hat, wertet das den weltbekannten und doch so mysteriösen so genannten Nazijäger nun ab? "Ich glaube, Österreich kann nur dankbar sein dafür, dass es so einen Mann gab, dass der Mossad sich die Mühe gibt, Naziverbrecher ausfindig zu machen. Ich habe mich manchmal gefragt, ob Österreich einen solchen Mann überhaupt verdient hat, der nach dem Krieg in Österreich geblieben ist und sich die Aufgabe gestellt hat, Österreich von seiner Vergangenheit zu säubern."

"Verbrechen gegen die Menschlichkeit"

Kein Zweifel, der israelische Historiker Tom Segev, der in seinen früheren Büchern Israels Geschichte in sehr kritischer Weise neu geschrieben hat, ist fasziniert von der Persönlichkeit, die fünf Jahre lang das Objekt seiner Recherchen war: "Ich schätze sehr seine Holocaust-Auffassung. Er hatte eine breite humanistische Auffassung. Er dachte, dass die Verbrechen gegen die Juden überwiegend Verbrechen gegen die Menschheit waren, und das schätze ich. Er war kein leichter Mann, er war sehr streitsüchtig, sehr eitel, er lebte oft zwischen Realität und Fantasie, und für den Biographen ist es nicht leicht, immer zu sortieren, was stimmt eigentlich und was nicht. Für mich war erstaunlich, dass ich sehr oft davon ausgegangen bin, dass irgendeine Geschichte, die in seiner Biographie steht, Fantasie ist, und ich habe immer wieder herausfinden müssen: Ach, das stimmt ja, da ist ja was dran, er hat es nicht erfunden."

Große Rolle bei der Ausforschung Eichmanns

Manche zweifelten etwa an, dass Wiesenthal bei der Ausforschung von Adolf Eichmann eine große Rolle gespielt hätte. Doch Segev fand heraus, dass Wiesenthal schon 1948 mit dabei war, als Mossad-Leute versuchten, Eichmann im österreichischen Altaussee zu fassen. 1953 informierte Wiesenthal den Mossad darüber, dass der Organisator der Judendeportationen in Argentinien war. Doch erst 1960 wurde Eichmann aus Argentinien entführt. "Und Wiesenthal war natürlich sehr verärgert darüber. Als sich dann herausgestellt hat, dass der Eichmann wirklich in Argentinien ist, sagte er: Ich hab’s euch ja gesagt, seit sieben Jahren sage ich euch, dass er in Argentinien ist, und er wusste es, er wusste es aus guter Quelle."

"Mossad hat Wiesenthal geholfen"

Segev ist nicht sehr glücklich darüber, dass Wiesenthal jetzt als Mossad-Agent bezeichnet wird, und er glaubt nicht, dass die Legende vom einsamen Kämpfer gegen die Naziverbrecher jetzt zerstört ist: "Doch, er war schon ein Einzelgänger. Auch der Ausdruck Mossad-Agent ist ein bisschen irreführend, er war ja kein israelischer Spion. Er hat es fertiggebracht, dass der israelische Mossad ihm geholfen hat. Erstens einmal hat der Mossad die Errichtung des Dokumentationszentrums in der Salztorgasse in Wien bezahlt. Er hat eine monatliche Bezahlung bekommen und zwar in bar, in amerikanischen Dollar, nicht so furchtbar viel, ungefähr 300 Dollar. Er hat einen Decknamen gehabt, ‚Theokrat´."

Wiesenthals Konflikt mit Kreisky

Die Biographie erscheint gleichzeitig in mehreren Ländern und mehreren Sprachen, für Österreich ist sie besonders interessant, weil Wiesenthal auch die österreichische Politik bewegte, etwa durch den bitteren Konflikt mit Bruno Kreisky, der Wiesenthal ohne jeden Beweis sogar der Kollaboration mit der Gestapo beschuldigte: "Wiesenthal wurde eigentlich sein ganzes Leben lang von der österreichischen Polizei bespitzelt, und das fand ich eigentlich ziemlich verblüffend, dass, als der Bundeskanzler dann diesen Streit hatte mit Wiesenthal, auf einmal auf seinem Schreibtisch lauter Akten erscheinen, die irgendwann einmal in den 50er Jahren angelegt wurden. Warum hat man den überhaupt bespitzelt? In einem Flugzeug spricht er über den Kreisky, sofort wird eine Akte angelegt. Und es ist nicht ganz klar, zu wem er das gesagt hat, dann um sicher zu sein, haben sie eine volle Liste von allen Passagieren auf dieser Fahrt dazugelegt. Und zusammen zeigt das schon einen gewissen Defekt in der österreichischen Demokratie."

Affäre Waldheim

Auch Wiesenthals Rolle in der Waldheim-Affäre wird durchleuchtet. "Als sich herausgestellt hat, dass Waldheim gelogen hat und seine wirkliche Vergangenheit verbogen hat, hat Wiesenthal sich bedroht gefühlt in seiner eigenen Glaubwürdigkeit. Er hat zwar Waldheim öffentlich nicht wirklich verteidigt, aber er hat immer gesagt: Mein Büro beschäftigt sich mit Mördern und nicht mit Lügnern, und der Waldheim war ein Lügner."

"Wiesenthal fühlt sich als Österreicher"

Und warum hat Wiesenthal sich eigentlich ausgerechnet in Österreich niedergelassen? "Er stammt aus einem kleinen Dorf im österreichischen Kaiserreich, Buczacz. Wien war immer eigentlich seine Hauptstadt, er war auch als kleiner Junge während des Ersten Weltkriegs in Wien, sein Vater ist im Ersten Weltkrieg gefallen für das österreichische Kaiserreich. Also er hat sich schon zugehörig gefühlt. Und ich habe mich immer gefragt, warum gibt er sich solche Mühe, die Österreicher vor dem Antisemitismus zu retten oder die Österreicher vor sich selber zu retten? Aber es war eben nicht so, dass er gegenüber den Österreichern stand, sondern er fühlte sich als österreichischer Patriot."

Mittagsjournal, 02.09.2010

Buch erscheint in drei Sprachen

Der Mann und der Mythos Simon Wiesenthal – das ist der Gegenstand einer Biographie des renommierten israelischen Historikers Tom Segev. Das Buch erscheint jetzt fast gleichzeitig auf Hebräisch, Englisch und Deutsch – und es enthält brisante Enthüllungen über den Mann, der ein kleines Büro in Wien hatte und als so genannter Nazijäger weltbekannt war. Die israelische Zeitung Haaretz hat heute Vorinformationen darüber abgedruckt.

Agent des Mossad

Demnach agierte Wiesenthal bei seinen Versuchen, Naziverbrecher aufzuspüren, nicht alleine, sondern er war 10 Jahre lang ein bezahlter Agent des israelischen Geheimdiensts Mossad. Wiesenthal habe 300 Dollar im Monat erhalten, und der Mossad habe 1960 die Errichtung des Büros finanziert. Wiesenthal habe auch einen israelischen Pass bekommen, obwohl er kein israelischer Staatsbürger war.

Jagd auf Adolf Eichmann

Schon 1948 habe es unter Wiesenthals Mitwirkung einen Versuch gegeben, in Österreich den Naziverbrecher Adolf Eichmann zu schnappen. Drei Mossad-Agenten und auch die österreichischen Sicherheitsbehörden seien beteiligt gewesen. Man habe Eichmann in Altaussee aufgelauert, wo seine Frau und seine Kinder damals lebten. Doch anders als erwartet, kam Eichmann zu Weihnachten nicht auf Besuch. Eichmann wurde schließlich erst 12 Jahre später aus Argentinien entführt und nach einem Prozess in Israel hingerichtet.

Hinweise über flüchtige Nazis

Wiesenthal soll dem israelischen Geheimdienst auch Informationen über die Aktivitäten flüchtiger Nazis in arabischen Ländern geliefert haben, insbesondere über deutsche Raketenwissenschaftler, die für Ägypten arbeiteten.

Wiesenthal in Österreich umstritten

Wiesenthal hat fünf Konzentrationslager überlebt. Er ist 2005 im Alter von 96 Jahren in Wien gestorben und wurde in Israel begraben. Er wurde in Filmen zum Helden verklärt, in Österreich war er vielen Anfeindungen ausgesetzt, im hohen Alter wurde er aber für seine Verdienste um die Republik ausgezeichnet. Der Autor Segev hat Briefe, Geheimdienstakte und viele andere, bisher unbekannte Originalquellen, durchgearbeitet.

Konflikt Kreisky - Wiesenthal

Für Österreich besonders interessant sind die Durchleuchtung von Wiesenthals Rolle in der Waldheim-Affäre und Dokumente über den bitteren Konflikt zwischen Wiesenthal und dem früheren Bundeskanzler Bruno Kreisky. Kreisky hat Wiesenthal demnach intensiv bespitzeln lassen. Segev glaubt, dass Wiesenthal als in Galizien geborener Altösterreicher ein „österreichischer Patriot“ war – das sei der Grund, warum er sich in Wien niedergelassen habe.

Service

Tom Segev, "Simon Wiesenthal. Die Biographie, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, Siedler Verlag

Buchpräsentation sowie Michael Kerbler im Gespräch mit Tom Segev, Mittwoch, 15. September 2010, 18:30 Uhr, Jüdisches Museum Wien, Eintritt frei, um Anmeldung wird gebeten.

JMW - Buchpräsentation und "Zeitgenossen im Gespräch"
Random House - Siedler