Einsichten von Margarete Mitscherlich

Die Radikalität des Alters

Die deutsche Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich starb am 12. Juni 2012 im Alter von 94 Jahren. Bis zuletzt setzte sie sich auch publizistisch mit dem Alter auseinander.

"Wenn man wie ich 93 Jahre alt ist, ist die Realität des Alters äußerst mühsam. Der Körper, der sich - wie der meine - durchaus daran erinnert, dass Gehen ein großes Vergnügen machen kann, ist jetzt wie ein schwerer Klotz, den man nur mit vielen guten Worten in Bewegung zu setzen vermag", gab Margarete Mitscherlich in ihrem letzten Buch, "Die Radikalität des Alters" zu Protokoll.

Die Gebrechlichkeit des Körpers

In ihrem letzten Lebensjahr spürte Margarete Mitscherlich, die "Grande Dame der deutschen Psychoanalyse", wie sie auch genannt wird, die Unzuverlässigkeit der Beine, die Gebrechlichkeit des Körpers, die Präsenz des Todes. "Die Radikalität des Alters", wie ihr letztes Buch und dessen letzter Text heißen, ist die Radikalität der Erkenntnis: die Zeit wird knapp, die Optionen schwinden. Was noch zu erledigen ist, duldet keinen Aufschub. Und Mitscherlich formulierte dies mit bewundernswerter Klarheit und ohne jede Larmoyanz.

Aufsätze und Reden aus den letzten Jahren

"Die Radikalität des Alters. Einsichten einer Psychoanalytikerin" handelt vom Alter und seinen Folgen, aber nicht nur davon. Das Buch versammelt Aufsätze und Reden aus den letzten Jahren: Texte über Medizin und Antisemitismus, über Erinnern und Verdrängen, über Sexualität und Androgynie, über männliche und weibliche Werte, über Lebenswerk und Lebenssinn, Trauerarbeit und Trauerkrankheit. Texte, die noch einmal die zentralen Themen der Autorin zusammenfassen - und damit zugleich so etwas liefern wie Bruchstücke einer Autobiografie.

1917 im deutsch-dänischen Grenzgebiet als Tochter einer deutschen Lehrerin und eines dänischen Landarztes geboren, wuchs Margarete Nielsen, wie sie mit Mädchennamen heißt, in einer Familie auf, "durch die ein Riss ging, was nationale Gefühle und damit auch viele Wertvorstellungen betraf". Nationalstolz versus Widerstandsgeist, romantische Deutschland-Verklärung versus "schmerzhafte Entidealisierung".

Zuerst Anthroposophie, dann Psychoanalyse

Mitscherlich studierte zuerst Philologie, später Medizin, und arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg als Ärztin in der Schweiz. Zunächst eine begeisterte Anthroposophin, wendete sie sich nach der Begegnung mit dem neun Jahre älteren Alexander Mitscherlich der Psychoanalyse zu. Diese wird zum "geistigen Zentrum" ihres Lebens, wie sie später schreiben wird, zum "Weg der Selbst- wie Fremderkenntnis".

"Erweiterung des Wissens um das eigene Selbst"

Mit ihrem späteren Mann ging sie zunächst nach Heidelberg, wo Alexander Mitscherlich 1950 die Abteilung für Psychosomatische Medizin an der dortigen Universität gründete, und später ans Sigmund-Freud-Institut nach Frankfurt, wo sie auch heute noch lebt. "Für mich bedeutete die Psychoanalyse ungeheuer viel", sagt Margarete Mitscherlich, "nämlich neben einer Befreiung von alteingesessenen gesellschaftlichen Vorurteilen auch eine Erweiterung des Wissens um das eigene Selbst und damit auch der Neurosen meiner Patienten".

Vergessene NS-Zeit

Die Psychoanalyse wurde nicht nur zum psychologischen, sondern auch zum gesellschaftspolitischen Instrument. Wie war Auschwitz möglich? Warum war im Deutschland der Nachkriegszeit die Vergangenheit kein Thema, fragten sich Alexander und Margarete Mitscherlich. Warum wurde nicht erinnert, sondern verdrängt, nicht getrauert, sondern vergessen? In ihrem berühmten Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" von 1967 legten sie eine ganze Nation auf die Couch und beklagten die "Gefühlsstarre" des Wirtschaftswunderlandes.

Ein Leben lang Feministin

Psychoanalyse heißt das eine große Leitmotiv in Margarete Mitscherlichs Leben, das andere heißt: Emanzipation. Auch davon handeln ihre Texte. "Ich war mein Leben lang Feministin", bekannte die Autorin, deren Buch eingeleitet und abgeschlossen wird durch ein Vorwort von bzw. ein Gespräch mit Alice Schwarzer, für deren Zeitschrift "Emma" sie auch schrieb.

Emanzipation freilich bezog sie nicht nur auf den Feminismus und den Kampf für die Gleichberechtigung der Frau. Emanzipation bedeutete für sie die "Befreiung von Denkeinschränkungen, Vorurteilen, Ideologien".

Weniger provozierend als besonnen

"Die Radikalität des Alters" versammelt Zeugnisse einer Psychoanalytikerin aus Leidenschaft, die mehr als ein halbes Jahrhundert deutscher Geistes- und Kulturgeschichte mitgestaltet hat, die, dem Titel zum Trotz, weniger radikal als beharrlich, weniger provozierend als besonnen wirkt. Muss der Leser, die Leserin bei diesen in den letzten 15 Jahren zu ganz unterschiedlichen Anlässen entstandenen (und für die Veröffentlichung jetzt überarbeiteten) Texten auch manche Wiederholung in Kauf nehmen - einige biografische Hinweise erfährt er und sie mehr als einmal -, so wird er doch nie mit Eitelkeiten konfrontiert.

Margarete Mitscherlich schrieb nüchtern, unprätentiös, sich immer wieder auch selbst befragend. Und machte dabei deutlich: Hier ist jemand mit großer Geradlinigkeit und Glaubwürdigkeit seinen Weg gegangen - und hat bis ins hohe Alter nicht seinen Wissensdrang verloren, seine Neugier, seine Lust am Denken.

Service

Margarete Mitscherlich, "Die Radikalität des Alters. Einsichten einer Psychoanalytikerin", Verlag S. Fischer

S. Fischer - Die Radikalität des Alters
Emma

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