Die große alte Dame der Psychoanalyse
Margarete Mitscherlich ist tot
Die deutsche Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich ist tot. Sie starb am Dienstagvormittag im Alter von 94 Jahren, teilte das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut mit.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 13.6.2012
Die Grande Dame der Psychoanalyse war viele Jahre an dem Institut in Frankfurt am Main tätig. Sie galt als Vorkämpferin der Frauenbewegung.
Gemeinsam mit ihrem 1982 gestorbenen Mann Alexander Mitscherlich analysierte sie in "Die Unfähigkeit zu trauern" (1967) die deutsche Nachkriegsgesellschaft, die nach Meinung der Autoren die NS-Vergangenheit nicht bewältigt hatte. Der Bestseller über kollektive Verdrängungsmechanismen gilt als ein Schlüsseltext der Studentenbewegung. Das Paar setzte sich für eine kollektive Aufarbeitung der Geschichte des Dritten Reiches ein. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Als Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin kam Margarete Nielsen 1917 in Dänemark zur Welt. Ihr Abitur machte sie während der Nazi-Diktatur in Flensburg. Nach dem Medizin-Studium in München und Heidelberg arbeitete sie vorübergehend in der Schweiz, wo sie Alexander Mitscherlich kennenlernte. Da war der Psychoanalytiker (1908-1982) in zweiter Ehe verheiratet und schon vierfacher Vater.
Den 1949 geborenen gemeinsamen Sohn Matthias vertraute sie zeitweise ihrer Mutter an, weil sie ihn wegen der eigenen Berufstätigkeit dort besser versorgt glaubte. Das brachte ihr später viel Kritik ein. 1955 heiratete das Paar aber doch und begründete eine jahrzehntelange Liebes- und Arbeitsbeziehung, eine Lebens- und Denkgemeinschaft.
Ihre 45 gemeinsamen Jahre mit Alexander seien nicht immer harmonisch gewesen, erzählte sie bei einer ihrer letzten Lesungen in Frankfurt im ausverkauften Literaturhaus. "Wir haben uns oft gestritten." Die Rivalität zwischen den beiden Wissenschaftlern sei "nicht das Problem gewesen, die war lustvoll. Aber die Eifersucht war vorhanden. Er hat mir auch vorgeschlagen, mir einen anderen zu suchen. Aber wenn ich das dann tat, war der Teufel los."
Margarete Mitscherlich wandte sich später der Frauenbewegung zu. Sie verfasste 1985 ihr wohl wichtigstes eigenes Buch "Die friedfertige Frau". Dort legte sie dar, dass Frauen nicht von Natur aus weniger aggressiv seien, sondern ihr vermeintlich ausgleichendes Wesen nur erlernt hätten.
Bis zuletzt hielt sie Vorträge und noch gelegentlich psychoanalytische Sitzungen ab. Noch im Herbst 2010 hatte sie ein Buch mit dem Titel "Die Radikalität des Alters" geschrieben. Darin stellte sie unter anderem fest:
Die Radikalität des Alters
Wenn man wie ich 93 Jahre alt ist, ist die Realität des Alters äußerst mühsam. Der Körper, der sich - wie der meine - durchaus daran erinnert, dass Gehen ein großes Vergnügen machen kann, ist jetzt wie ein schwerer Klotz, den man nur mit vielen guten Worten in Bewegung zu setzen vermag.
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Psychoanalyse und Feminismus
Beide Konzepte hatten für sie viel miteinander zu tun. Freud habe als Erster anerkannt, dass Frauen sexuelle Wesen seien. Seine Lehren hätten ihrer Meinung nach auch die Gesellschaft verändert: Erst durch seine Arbeit hätten wir die Möglichkeit, die Motive, die unserem Verhalten sowie die unbewussten Konflikte, die unseren Symptomen zu Grunde liegen, hervorzuholen - und durch das analytische Gespräch zu verändern, war sie überzeugt.
Sie verehrte Freud als "Begründer der modernen Seelenkunde". Und auf ihrem Sofa in ihrer Dachgeschosswohnung im Frankfurter Westend, in der sie schon mit ihrem Mann Alexander wohnte, saß: eine Sigmund-Freud-Plüschpuppe.