Fiktive Personen mit Eigenleben

Sabine Grubers Kunst-Figuren

"Besondere Begegnungen sind Begegnungen, die mich elektrisiert haben, die mich stark ergriffen oder mich in meinem Leben weitergebracht haben." Die Schriftstellerin Sabine Gruber.

Ereignisse, die die Seele aufwühlen, etwas Neues hervorbringen und dazu bewegen, eingefahrene Wege zu verlassen - das sind die richtungsweisenden Marksteine einer Biografie. Außergewöhnliche Persönlichkeiten, aber auch die Konfrontation mit etwas nie zuvor Erlebtem können Auslöser für derlei Sensationen sein: "In erster Linie sind es Menschen, aber gerade für jemanden wie mich, die aus sehr einfachen Verhältnissen kommt, war auch die Kunst eine sehr starke Begegnung."

Sabine Gruber, Schriftstellerin

Kunst kann mir etwas geben, was einem sonst wahrscheinlich nur Drogen geben können.

Im schönsten Dom Europas

Sabine Gruber, die soeben ihren jüngsten, vielbeachteten Roman "Stillbach oder die Sehnsucht" vorgelegt hat, ist gebürtige Südtirolerin. Ihre Herkunftsfamilie bezeichnet sie als eine "bildungsferne", die "mit Kunst nicht viel am Hut" hatte, so Gruber. Bei einem Schulausflug in die italienische Stadt Orvieto besuchte Sabine Gruber mit ihrer Klasse den Dom Santa Maria, ein gotisches Bauwerk, das oft auch als "der schönste Dom Europas" bezeichnet wird; im Inneren des Doms ist unter anderem das Weltgericht und der jüngste Tag dargestellt.

Und: Noch während Sabine Gruber die Gemälde an den Wänden bestaunte begann ein Orgelkonzert: "Es war ein Stück von J. S. Bach: Toccata und Fuge in D-Moll - für mich war das Stück damals unbekannt - und ich geriet in einen Zustand, der drogenähnlich war. Ich war in einem Trance-artigen Zustand. Ich habe zum ersten Mal erfahren, dass Kunst mir etwas geben kann, was einem sonst wahrscheinlich nur Drogen geben können, eine wesentliche Erfahrung!"

Der Sturz des Ikarus

Kunst spielt in nahezu allen Büchern Sabine Grubers eine wichtige Rolle. Am Beginn ihres Romans "Die Zumutung" etwa stand ein Bild von Brueghel: "Der Sturz des Ikarus". Sie habe beim ersten Blick auf dieses Werk gemerkt, so Gruber, dass dies das Bild zu jenem Buch sei, das sie schreiben wollte. Am Rand des Bildes sieht man zwei dünne Beinchen im Meer verschwinden, niemand scheint zu sehen, wie Ikarus ins Wasser stürzt. Für Sabine Gruber ist dies das Sinnbild des Menschen, der allein gelassen ist mit seinem Unglück - ein zentrales Thema im Roman "Die Zumutung".

Begegnung mit Kunst bedeutet aber auch Begegnung mit Kunst-Figuren: Etliche der von Sabine Gruber erdachten Protagonisten tauchen in ihren Büchern immer wieder auf. Im neuen Roman "Stillbach oder Die Sehnsucht" etwa begegnen Gruber-Leser alten Bekannten.

"Letztlich ist bei mir jeder neue Roman eine Wiederbegegnung mit Figuren aus früheren Romanen. Beispielsweise Emma, die 1938 erst nach Venedig und dann nach Rom kommt, um dort zu arbeiten und ihre Familie in Südtirol zu unterstützen, die kommt bereits in 'Über Nacht' vor, im Altersheim. Das ist jene Frau, die immer davonläuft und zurück will in die Via Nomentana. Und im neuen Roman ist diese Emma die Hotelbesitzerin in der Via Nomentana - ein Teil des Romans spielt ja 1978, da ist sie noch Anfang sechzig. In 'Über Nacht' ist sie schon im Altersheim, und in der Binnengeschichte von 'Stillbach oder die Sehnsucht' ist sie im Altersheim und bereits sehr alt."

Am Anfang standen Selbstgespräche

Die Wiederbegegnung mit Figuren ist Sabine Gruber deshalb wichtig, weil sie nach Beendigung eines Buches unwillkürlich Abschiedsschmerz verspürt. Längst haben die Figuren überdies etwas Reales an sich. Für Sabine Gruber existieren sie tatsächlich: "Das geht auf meine Kindheit zurück, wo ich sehr viel mit erfundenen Figuren gesprochen und gespielt habe. Ich habe häufig Selbstgespräche geführt, und ich kann mich erinnern, dass meine Mutter mich einmal angeschaut und gefragt hat, ob ich spinne. Heute weiß ich, dass ich tatsächlich Gedanken und Figuren gesponnen habe, und dass dieses Spinnen das Spinnen eines Erzählfadens ist, der dort schon in seiner ersten dünnen Existenz vorhanden war."

Sabine Gruber fand sich während ihrer Kindheit gleich in mehrerlei Hinsicht in einem Zwischenreich. Zum einen wurde die italienische Realität in Südtirol, wo sie aufgewachsen ist, aus politischen Gründen gewissermaßen ausgeblendet. Zum anderen entwickelte Gruber sich zu einer ausgesprochenen "Leseratte" und vermischte das Gelesene mit ihren erfundenen Geschichten. So errichtete sie den Grundstein für ihre spätere Profession als Schriftstellerin:

"Damals hab ich mir Figuren erfunden, gegen die ich spielerisch angetreten bin, die ich für Ballspiele gegen die Wand brauchte, fiktive Gegnerinnen. Aber das fiktive Spiel habe ich noch weiter entwickelt: Ich habe für diese fiktiven Figuren noch Orte für die Figuren gesucht, die ich mir bei unseren Sonntagsausflügen ausgewählt habe. Ich habe damals schon reale Topographie verwendet, was ich ja heute auch im Schreiben mache, um darin fiktive Figuren anzusiedeln."

Schwere Trennung von fiktiven Figuren

Am Beginn ihres jüngsten Romans, "Stillbach oder Die Sehnsucht", das unter andrem vom Leben der Südtiroler Dienstmädchen in Italien handelt, stand die Begegnung mit einer realen Person: Sabine Grubers Großmutter, die tatsächlich früher Dienstmädchen war und Geschichten über das herrschaftliche Auftreten ihrer Dienstgeber erzählte: "Beim Teigkneten musste sie immer singen, und wenn sie aufhörte, stand der Verdacht im Raum, dass sie Teig naschte. Die Herrschaften nahmen keinen Verlust in Kauf und haben sich alles Mögliche einfallen lassen, um das zu verhindern."

Auch nach Fertigstellung des Romans "Stillbach oder die Sehnsucht" konnte sich Sabine Gruber nur schwer von ihren Figuren trennen. Ein Trost: die Aussicht auf Wiederbegegnungen: "Die fiktiven Figuren werden mich auch in Zukunft begleiten. Und letztlich auch die frühe Begegnung mit Musik, die sich insofern wiederholt, als ich bei jedem neu entdeckten schönen Musikstück den Dom von Orvieto vor mir habe."

service

Sabine Gruber
Wikipedia - Landschaft mit dem Sturz des Ikarus