Verarbeitete Erinnerungen

Die Demontagen des Roman Polanski

Dass Roman Polanski ein singulärer Filmkünstler der Moderne ist; einer, der sich wie kein Zweiter durch sämtliche Genres gegraben und das Establishment dabei immer überfahren hat, das hat in den vergangenen Jahren niemanden interessiert.

1977 wurde Polanski in Los Angeles wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen angeklagt und ist schließlich ins französische Exil geflohen. 2009 wird er in der Schweiz verhaftet: die USA hatten wegen dieses Delikts einen Auslieferungsantrag gestellt. Im Dezember desselben Jahres wird seine Haftstrafe in einen elektronisch überwachten Hausarrest übersetzt, der erst im Mai 2010 aufgehoben wird.

Die Folgen eines Schlages sind nicht nur zwei abgebrochene Schneidezähne und eine geschwollene Lippe, sondern vor allem, dass sich die Täter-Eltern Longstreet bei den Opfer-Eltern Cowan einfinden, um über den Gewaltakt zu sprechen.

Was sich anfänglich als zivilisierte Konversation verkleidet, lässt Regisseur Polanski aber schnell und sehr genüsslich aus dem Ruder laufen. Kleine Meinungsverschiedenheiten und einige Missverständnisse produzieren schließlich eine aufgeladene Atmosphäre, in der keine Gefangenen mehr gemacht werden. Schritt für Schritt werden die zwischenmenschlichen Fassaden eingeschlagen – und schnell wird klar, dass es niemandem mehr um das Wohl der Kinder geht, sondern darum, die eigene Weltsicht bestätigt zu wissen und Andersdenkende zu desavouieren.

Der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten

Die Autorin des Theaterstücks Yasmina Reza und Polanski kennen einander schon lange: 1988 übersetzt sie Franz Kafkas "Die Verwandlung" für den Regisseur, der in Stephen Berkoffs Bühnenadaption die Hauptrolle übernommen hat, ins Französische. Das Drehbuch zu "Der Gott des Gemetzels" verfassen sie gemeinsam.

Der politisch korrekten Gesellschaft will Polanski einen Spiegel vorhalten und ihre Verlogenheit und Heuchelei an einem Fallbeispiel beweisen. "Der Gott des Gemetzels" ist ein amüsantes Boulevardstück, das die Leitmotive des Regisseurs zu einem Kammerspiel zusammenpresst. Ideologische Imperative und sonstige Richtlinien, wie man zu leben und wie man sich zu verhalten hat, lehnt Polanski ebenso ab wie Autoritäten.

Als Kind im Krakauer Ghetto

Schon als Sechsjähriger muss Polanski mitansehen, wie seine Eltern und andere polnische Juden im Krakauer Ghetto zusammengepfercht und anschließend in Konzentrationslager deportiert werden. Polanski selbst flieht im Alter von zehn Jahren aus der Stadt, nimmt einen anderen Namen an und taucht bei verschiedenen römisch-katholischen Familien unter.

Immer wieder allerdings scheitert seine Assimilation: Der junge Roman Polanski ist ein Flüchtender im von Nazis besetzten Polen. Immer wieder ist er kurz davor, sein Leben zu verlieren, etwa als deutsche Soldaten den Buben für Zielübungen durch die Landschaft hetzen und mit scharfer Munition auf ihn schießen. Polanskis Biografien gehen davon aus, dass diese traumatischen Erfahrungen seinen Regiearbeiten ihre trostlose Färbung verliehen haben.

2002 schließlich arbeitet er seine Erlebnisse in seine mit drei Oscars ausgezeichnete Verfilmung der Biografie des polnischen Komponisten und Pianisten Wladyslaw Szpilman ein: Wie Polanski selbst überlebt er den Holocaust, während seine Familie in Konzentrationslagern ermordet wird. Vollkommen zu Recht gilt "Der Pianist" als Schlüsselfilm in der bewegten Karriere von Roman Polanski.

Fluchtraum Kino

Das Kino war immer auch schon Fluchtraum für Roman Polanski: als Bub versteckt er sich häufig in den polnischen Landkinos vor den Nazis. Später verarbeitet er seine eigenen Traumata und Psychosen in seinen Geschichten. Im Besonderen seine so genannte Apartment-Trilogie gibt Aufschluss über die Unsicherheiten und Angstzustände des Regisseurs: Während "Ekel" und "Rosemary's Baby" noch um eine zentrale Frauenfigur angeordnet sind, schlüpft der Regisseur in "Der Mieter" selbst in die Hauptrolle.

Der in Frankreich realisierte Psychothriller aus dem Jahr 1976 zeigt ihn als psychisch labilen Bankangestellten in einer Altbauwohnung, deren vorige Mieterin sich aus dem Fenster in den Tod gestürzt hat. Immer tiefer steigert er sich in paranoide Wahnvorstellungen hinein, immer weiter rückt die Wirklichkeit von ihm ab. Motive von Identitätsverwischungen hin zu einer als feindlich empfundenen Umwelt bearbeitet Roman Polanski in einen surrealen Albtraum, der auch heute noch nichts von seiner beunruhigenden Wirkung verloren hat.

Ermordete Unschuld

Roman Polanski ist allerdings viel zu intelligent, als dass er in Filmen sein Leben ausbreiten würde. Zwischen biografischen Elementen und Quer-Referenzen lässt er die Mythen keimen und stellt immer wieder sein Talent als altmodischer Geschichtenerzähler unter Beweis.

Mit "Tess" adaptiert er 1979 Thomas Hardy's Roman "Tess von den d'Urbervilles: Eine reine Frau" und formuliert die harte Geschichte der beinahe engelsgleichen Hauptfigur als Liebesbrief an seine zehn Jahre zuvor vom Manson-Clan ermordete Frau Sharon Tate. Die Hauptrolle besetzt er mit Nastassja Kinski, mit der der Regisseur seit 1976 zusammenlebt.

Im Verlauf seiner Karriere stellt Polanski eindrucksvoll unter Beweis, dass er sich in vielen Genres zurechtfindet: Er inszeniert Horrorkomödien, Film Noirs und Suspense-Thriller. Alle seine Arbeiten kreisen aber um die Unschuld, die von der verderbten Gesellschaft ein ums andere Mal ermordet wird. In "Der Gott des Gemetzels" meint er damit die beiden Buben: Während die sich ein paar Zähne ausschlagen, betreiben ihre Eltern psychologische Kriegsführung.

Tief drinnen ist Roman Polanski immer noch der flüchtende Bub, der lernen musste, der ganzen Welt zu misstrauen, um zu überleben. Seine Filme sind dunkel und wirken hoffnungslos, da sie von einem Regisseur erdacht wurden, dessen Existenz sich mehrfach kurz vor der Implosion befand. Hinter all der Abgeklärtheit schlummert aber ein Traum - und das ist der, dass die Menschen erst dann wieder Menschen werden, wenn sie sich im Spiegel als Monster gesehen haben.

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IMDb - Roman Polanski