Die Trostspender "Alpis"

Griechischer Film von Yorgos Lanthimos

Es ist immer wieder ein schmaler Grat zwischen der Realität und einer surreal anmutenden Scheinwelt, den der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos in seinen Filmen beschreitet. Für "Dogtooth" war Lanthimos 2011 für den Auslandsoscar nominiert und für sein aktuelles Werk "Alpis" wurde er bei den letzten Filmfestspielen in Venedig für das beste Drehbuch ausgezeichnet.

Während "Dogtooth" in einem zurückgezogenen Kosmos spielt, in dem ein Elternpaar seine Kinder abgeschottet von der Außenwelt großzieht und dabei ein verqueres Weltbild vermittelt, ist es in "Alpis" nun eine Gruppe von Erwachsenen, die mit einem mehr als eigenwilligen Nebenjob, in die unterschiedlichsten Lebensmodelle eintaucht und dabei mehr über die Griechenland-Krise des letzten Jahres erzählt, als sich auf den ersten Blick erahnen lässt.

Kulturjournal, 16.04.2012

Nebenjobs und Schwarzarbeit sind in Zeiten von Sparpaketen, Steuererhöhungen und permanent steigender Arbeitslosigkeit wohl keine Seltenheit. Aber die Art und Weise, wie in "Alpis" Geld dazu verdient wird, kann wohl als außergewöhnlich bezeichnet werden: Eine Krankenschwester, ein Sanitäter, eine Turnerin und ihr Trainer bieten die Vertretung von Verstorbenen als Dienstleistung an, spielen für die Zurückgebliebenen die Tochter, den Freund, die Geliebte.

Ihre Gruppe nennen sie Alpis - die Alpen. Ein großes Symbol, heißt es im Film: unverwechselbar, nicht austauschbar. Alles andere wäre kleiner. Sie schlüpfen so in eine skurrile Stellvertreterrolle, versuchen eine Leere aufzufüllen, sich im eigenen Unglück an das Leben anderer zu klammern, und flüchten so in eine Welt, wie Regisseur Yorgos Lanthimos erklärt, die nicht die ihre ist.

Das Ende als "besserer Neuanfang"

Dabei fasziniert die Selbstverständlichkeit, mit der Lanthimos diese Scheinexistenzen inszeniert, die dank der Präzision, mit der Bilder und Dialoge montiert sind, nie lächerlich oder absurd wirken, sondern ganz im Gegenteil: Es entsteht dadurch ein Blick von außen, der es den Figuren erlaubt, zum Alltäglichen Stellung zu beziehen.

"Das Ende kann ein besserer Neuanfang sein." Was eine Krankenschwester hier zu den Eltern sagt, die gerade ihre Tochter verloren haben, klingt wie eine düstere Metapher für ein Land, das in den vergangenen zwei Jahren immer wieder vor dem finanziellen Kollaps stand. Die Krise kommt in "Alpis" dabei zwar nie direkt zur Sprache, aber in den Dialogen, der Handlung und den Bildern schwingt sie permanent mit. Dabei habe er anfangs nicht spezifisch an Griechenland gedacht, so Yorgos Lanthimos, aber die Realität habe die Metaphorik des Films gewissermaßen eingeholt.

Natürlich sei Geld ein zentrales Thema im Film, so Lanthimos weiter. Der Vergleich mit der aktuellen Situation eines Großteils der griechischen Bevölkerung einladend.

Junges griechisches Kino

Sex, Streit, Streicheleinheiten. Ein Lügengerüst. "Alpis" ist in jeglicher Hinsicht ein radikal eigenwilliger Film - eigenwillig, wie auch das junge griechische Kino, das langsam aus den Schatten der großen Meister wie Michael Cacoyannis oder Theo Angelopoulos herauszuwachsen beginnt und unter schlechten Ausbildungsmöglichkeiten und mangelnder Finanzierung leide, zugleich aber immer individueller und unangepasster werde, so Lanthimos.

"Was uns eint, ist die Krise", meinte gar die griechische Filmemacherin und Produzentin von "Alpis", Rachel Athina Tsangari, unlängst in einem Interview. Die Krise habe das Kino längst erreicht, so Tsangari, aber sie sei optimistisch. Filmemacher müssten nun neue Wege der Finanzierung abseits staatlicher Förderungen suchen. Sie machen so kleinere, aber umso wichtigere Filme.

Irgendwann versucht sich die Tänzerin in "Alpis" zu erhängen. Die Krankenschwester bemerkt es, will einen Stuhl unterstellen, doch die Sitzfläche fehlt. "Alpis" ist eine große Metapher, poetisch und spannend zugleich - für den Zuschauer aber nicht immer leicht verständlich, wie auch so vieles außerhalb des Kinos.

Service

Stadtkino Wien - Alpis