Roman von Eva Menasses

Quasikristalle

Gescheitheit, sagte einst der selige Alfred Polgar, sei von sich überzeugt und deshalb so unausstehlich. Sie dringe nicht in die Tiefe der Erscheinungen, aber sie komme ihnen dahinter. Eva Menasse ist eine gescheite Autorin. Dass sie schreiben kann, hat die gelernte Journalistin bereits 2005 mit ihren Romandebüt "Vienna" und dem 2009 erschienenen Erzählband "Lässliche Totsünden" hinreichend bewiesen.

Nun folgt ein neuer Roman, "Quasikristalle" ist der Titel und der gibt bereits Auskunft über das poetologische Prinzip, das die Autorin auf gut 450 Seiten programmatisch entfaltet. Von herkömmlichen Kristallen unterscheiden sich die erst in den 1980er Jahren entdeckten Quasikristalle durch die Anordnung ihrer Moleküle. Sie bilden keine identischen Muster, ihre Struktur ist aperiodisch. Entsprechend ist auch Menasses Roman angelegt: Dreizehn, an Umfang und Erzählperspektive unterschiedliche Kapitel sollen Auskunft geben über die Biografie einer Frau. Zu Beginn des Romans ist sie 14 Jahre alt, am Ende, ohne genaue Angabe ihres Alters, hochbetagt, eine wohl noch rüstige Seniorin, die E-Mails ihres Sohnes erhält, in denen er seiner Mutter die Geburt eines weiteren Enkelkindes ankündigt.

Die heimliche Hauptfigur

Roxanne, die Xane genannt wird, geborene Molin, später verheiratete Braun, ist in Menasses Roman jenes Molekül, um das herum sich die unterschiedlichen Muster bilden. Im Zentrum des Romans erzählt diese Figur ein Kapitel lang von sich selbst, vorher und nachher wird über sie aus der auktorialen Perspektive gesprochen. Schlaglichtartig erhellt die Autorin dabei eine weibliche Existenz in den vergangenen und wohl kommenden vierzig Jahren. Wien und Berlin sind die hervorragenden Schauplätze.

Xane ist eine gewissermaßen heimliche Hauptfigur, denn im Vordergrund eines jeden Kapitels stehen jeweils andere Personen. Zu Beginn ihre Schulfreundinnen: Judith, eine unangepasste Pubertierende, kiffend und vom Vater, einem Musiker, der Bäcker geworden ist, verprügelt. Und Claudia, brav, blond und blöd, Tochter einer alleinerziehenden Mutter. Eines Nachts bekommt Claudia Kopfschmerzen, die Mutter rennt in die Apotheke. Als sie mit der Packung Aspirin zurückkehrt, ist die Tochter bereits verschieden. Xane und Judith werfen ihr bei der Beerdigung rosa Zuckerwatte ins Grab.

Die Selbstvergessenen

Einige Jahre später nimmt Xane an einer akademischen Auschwitz-Exkursion unter Führung eines Professors teil, der sich mit Mitte Vierzig die Haare rot färbt, als Holocaust-Experte gilt und in Gedanken jungen Frauen nachsteigt.

Xane rutscht gottlob weder der Ausschnitt noch ein Träger oder der Pullover über die Schulter, doch schrammt sie, die Tochter eines Verfolgten des Naziregimes, haarscharf vorbei an einer Affäre mit diesem von der Midlifekrise geplagten Entertainers aus dem Shoah-Business.

Die Zeit vergeht

In den folgenden Kapiteln wird sie als Untermieterin durch die argwöhnischen Augen eines katholischen, promovierten Diplomingenieurs betrachtet, beginnt eine Karriere als subversive Filmemacherin und trifft, inzwischen bereits verehelicht und in Berlin ansässig, auf Sally, die erfolglose Schwester ihrer Jugendfreundin Judith. Xane ist Gast auf einer Party der Kulturschickeria, Sally, die als Sängerin und alleinerziehende Mutter sich kaum über Wasser halten kann, catert dort.

Zwischen Partyspießen, Rotweinflaschen, Designerklamotten, Kinderwunschbehandlung, beruflichem Erfolg als Expertin für alternative Werbung, der Fast-Affäre mit einem Mitarbeiter des Gerichtshofs für Menschenrechte in Den Haag, zwischen Mutter-und Stiefmutterdasein, beglaubigter Patchworkfamilienerfahrung, rebellierenden Jugendlichen, Promotionsstipendium, einem seltsam abwesenden Ehemann, der ihr einst champagnertrinkend in der Badewanne Rilke vorlas, wird Xane langsam älter. Und während graue Strähnen in ihrem Haar aufleuchten, zeigt ihr Vater beim Familientreffen bereits deutlichere Verfallserscheinungen. Gottseidank, möchte man als Leser da fast sagen, denn das kann doch so nicht ewig weitergehen.

Von allem und jedem etwas

Das Philosophieren über das Paradies als Käfig, das Essen beim Asiaten, das Räsonieren über Ehe, Sex, Kinderlosigkeit, das Vergehen der Zeit, Freundschaft und postnatale Depression - von allem und jedem etwas. Als ob die Autorin etliche Jahrgänge beliebter Frauen-Zeitgeist-und Lifestyle-Magazine durchgearbeitet und daraus die Essenz ihres Romans kristallisiert hätte. Nein, es fehlt tatsächlich gar nichts: auch nicht der Ausblick auf eine Zukunft, in der sieche Alte von Jüngeren, Angehörigen oder Pflegepersonal, umgebracht werden, oder die allseits bedrohte Privatsphäre eines Menschen nur noch mit hohem Aufwand gesichert werden kann.

Es fehlt in diesem Roman auch nicht an verqueren Formulierungen, "Das Planschbecken schlug eine Narbe in den Rasen wie ein keltischer Kultkreis" oder an tiefsinnigen Erkenntnissen, die zu zitieren gegenüber der Autorin unhöflich wäre.

Man könnte mutmaßen, dass Eva Menasse vielleicht das Porträt einer Frau zeichnet, die eben durchschnittlich narzisstisch daher kommt, oder dass sie eine Zeit porträtiert, die, hoch erhitzt, vor allem Kaltes hervorbringt. Dass sie mit ihrer Gescheitheit und ihrer flapsig-ironischen Formulierungsgabe hinter diese Erscheinungen kommt und einen Status quo abbildet, den sie gegebenenfalls gar nicht gutheißt. Aber das wäre tatsächlich nur eine Unterstellung – und würde nicht erklären, warum einem die Figuren in ihrem Bemühen, gleichzeitig individuell und repräsentativ sein zu wollen, wie Abziehbilder vorkommen - hinter denen es gar nichts weiter zu entdecken gibt.

Service

Eva Menasse, "Quasikristalle", Kiepenheuer & Witsch