Krimi von Evelyn Grill
Der Sohn des Knochenzählers
Der Sohn des Knochenzählers heißt Titus. Der 21-Jährige lebt in einem kleinen Dorf im Salzkammergut, zusammen mit seinem Vater, einem Hofrat und Experten für keltische Grabfunde. Weswegen der Archäologe im Ort "Knochenzähler" genannt wird.
8. April 2017, 21:58
Titus' Mutter ist vor acht Monaten verschwunden. Warum oder wohin, weiß keiner, auch nicht, ob sie vielleicht Opfer eines Verbrechens geworden ist. Das Verhältnis von Titus und seinem Vater besteht vornehmlich aus Distanz. Man geht sich aus dem Weg und redet fast gar nichts miteinander. Einzig zum Ausziehen versucht der Vater Titus zu überreden, schließlich ist er alt genug, hat die Matura in der Tasche und könnte irgendwo, in Innsbruck oder Salzburg, studieren. Zum Beispiel Biologie, schließlich hält sich Titus zwei Hamster als Haustiere.
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Das Verhältnis zu seinem Vater bestand seit jeher nur aus Missverständnissen. Daran war er gewöhnt. Ein Verständnis seines Vaters für seine Interessen, ja, schon die Kenntnis davon, hätte ihn irritiert. (...) Er dachte an seine Mutter, die nie etwas von ihm erwartet hatte, sie war glücklich gewesen, dass es ihn gab, einzig sein Dasein war ihr wichtig gewesen, mein kleiner Prinz nannte sie ihn, später nur: mein Prinz oder mein Herzensprinz. Womit auch immer er sich beschäftigte, fand ihren Beifall. Doch wenige Monate vor ihrem Verschwinden wollte auch sie ihn zu einem Studium überreden. Sie dachte allerdings an Medizin, als Arzt habe er die besten Berufsaussichten, als Arzt würde seine entstellte Gesichtshälfte hingenommen werden, zumal er einen makellosen Körper und schöne Hände besäße; außerdem sei die rechte Seite seines Gesichts unversehrt.
Vom Hübschesten zum Außenseiter
Im Alter von 15 Jahren hatte Titus einen Unfall, der sein Leben veränderte. Einst war er der hübscheste Junge im Ort, doch sein durch eine Brandwunde entstelltes Gesicht machte ihn zum Außenseiter. Abgesehen von seiner Mutter hat er nur zwei weitere Bezugspersonen: seine Cousine Lea, die in Wien lebt und daher nur telefonisch erreichbar ist, und seinen Jugendfreund Connie.
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Einmal in der Woche kam Agnes, ihre Putzfrau. Die hatte seine Mutter engagiert, und sie war sogar ein wenig befreundet mit ihr gewesen, wie Titus schien. Agnes hatte seine Mutter bewundert. Sie hatte sich über ihr Verschwinden erschüttert gezeigt und die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie wieder zurückkehren würde. Sie wird sich befreien, sagte sie zu Titus unter Schluchzen, sie ist eine starke Frau. Agnes war überzeugt, dass jemand sie gefangen hielt. Gekidnappt, glaubte sie. Es kamen jedoch keine Lösegeldforderungen. Auch Titus verstand sich zunächst gut mit Agnes. Sie war eine einfache, arbeitsame Frau, gar nicht dumm, wie seine Mutter zu ihm häufig sagte, sie hat Hausverstand und ist warmherzig, so was findet man in diesem Dorf kein zweites Mal. Seine Mutter sagte, in diesem Dorf regiere nur die Bosheit.
Verwoben mit "Wilma"
Dieses Dorf war schon einmal Schauplatz eines Romans von Evelyn Grill, in dem auch die Figur der Agnes eine Rolle spielte: in "Wilma" erzählte Grill die Geschichte von Agnes und ihrem Pflegekind Wilma. In "Der Sohn des Knochenzählers" wird ansatzweise darauf Bezug genommen. Wie in "Wilma" geht es auch hier um die zu enge Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind und die Konsequenzen, die diese mit sich bringt.
Titus' Mutter macht ihn von klein auf emotional von sich abhängig. Das geht so weit, dass er nach ihrem Verschwinden nicht mehr zurecht zu kommen scheint. Stattdessen zieht er sich zurück, trinkt und verhält sich seinem Umfeld gegenüber aggressiv. Schließlich beschließt Titus, den Posten des örtlichen Totengräbers übernehmen zu wollen. Doch dieser ist plötzlich an einen Fremden vergeben, an einen Mann, den Titus schon einmal gesehen hat: am Tag des Verschwindens seiner Mutter.
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Agnes erhob sich (..). In diesem Augenblick sahen sie einen stattlichen, großgewachsenen Mann mit einem schwarzen, breitkrempigen Hut, an dem eine Hahnenfeder wippte, durch die Grabreihen auf sich zu kommen. (...) Das ist wohl der neue Totengräber, (...) der Bürgermeister sucht schon lange nach einem. Ein Fremder? (...) Das tut nicht gut, dachte Agnes. Sie dachte an den Kilian, auch ein Zugereister, der ihrer Wilma übel mitgespielt hatte. Und die Hahnenfeder, die sich wie eine Sichel über dem Hut des neuen Totengräbers bog, machte ihr Angst.
Bedrückende Atmosphäre
Evelyn Grill beschreibt in knappen, klaren Worten das Schicksal eines jungen Mannes, der nicht wirklich im Leben anzukommen scheint. Jedoch verspürt man als Leser kaum Mitleid mit ihm. Titus ist kein sympathischer Charakter. Abgesehen von seinem aggressiven Verhalten, ist er ziemlich ich-bezogen. Seine Vertrauten kontaktiert er immer nur dann, wenn er etwas loswerden oder sich über etwas beschweren will. Wie es den anderen geht, interessiert ihn nicht.
Nach und nach wird das Schicksal seiner Mutter aufgedeckt. Überraschend ist das Ergebnis eigentlich nicht, denn erfahrene Krimileser sollten schon ab der Hälfte des Romans zumindest erahnen können, was wirklich passiert ist. Doch der Autorin gelingt es, die Erzählung in eine so düstere, bedrückende Atmosphäre zu packen, dass man dem nachsieht. Insofern ist "Der Sohn des Knochenzählers" weniger ein typischer Krimi, als die dramatische Geschichte einer Familie und ihrer Abgründe.
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Evelyn Grill, "Der Sohn des Knochenzählers", Residenz Verlag