Die "Cafe Sonntag" - Glosse von Franz Schuh

Glück und Gier

Zu den Gemeinplätzen, die jedem Menschen zur Selbstdarstellung dienlich sind, gehört der Satz: Diese Gesellschaft hat keine Tabus mehr! Dagegen stelle ich mir vor (es ist eine reine Erfindung), ich wäre zu einem Abendessen, sagen wir, beim Bundespräsidenten eingeladen.

Es gibt natürlich Rindsuppe mit Frittaten, Tafelspitz und Wein aus der Wachau, einen mittelguten Riesling Federspiel – geurasst wird beim Staatsoberhaupt überhaupt nicht. Und man stelle sich vor, ich eröffne das Gespräch mit meiner Tischdame, einer eleganten Dame der Gesellschaft – sie ist eingehüllt in kostbarste Tücher mit leichtem Trachteneinschlag. Ich sage zu ihr:

"Also, gnädige Frau, ich bin ein Gieral. Wo andere die Hände in den Schoß legen, krieg ich den Hals nicht voll. Ein guter Tag beginnt für mich mit einem Gieranfall. Und der kommt bei mir immer von selbst. Ohne mein Zutun. Gnädige Frau, ich schnüffle schon früh morgens herum, damit ich was finde, was meine Gier befriedigt.

Und das ist nun das Schönste: Was eine ordentliche Gier ist, kann man gar nicht befriedigen. Ich bin so gierig, gnädige Frau, dass ich schon meine eigene Gier liebe: Wie die Idioten, die ins Verliebtsein verliebt sind, liebe ich das Gierigsein.

Und wenn ich schon von Liebe rede, gnädige Frau, ja, dieser Bereich, dieser intime Bereich. Ich bin zwar, wenn ich es so sagen darf, impotent, aber dauernd erregt. Der geile Impotente ist mein Daseinsideal, ich habe es erfüllt. Meine Gier trägt mich leicht durchs Leben, und, gnädige Frau, wenn’s auch manchmal rumpelt im Lebenslauf, ich bin gerne Raffke und Gierschlund in einer Person."

Ach, würde ich das der mir zugewiesenen Dame beim Präsidentschaftsabendessen sagen, die Dame würde mir in die Frittatensuppe spucken. Bei Gott, sie würde mir zeigen, was ein Tabu ist, und ich - ich würde es als ungerecht empfinden. Denn wetten, dass wenigstens zwei Drittel der Eingeladenen genau auf die von mir eingestandene Weise gierig sind; wetten, dass diese zwei Drittel, die sich mit der Nachspeise (Sachertorte) vollstopfen, den Hals nicht vollkriegen können. Gierig sein ist durchaus akzeptiert, tabuisiert ist nur, es zuzugeben. Die Gesellschaft der Gierale hat sich auf den Satz geeinigt: Gierig – das sind immer nur die anderen.