Kurzessay zu Offenbarung 7, 9. 14b - 17

Da hatte einer einen Traum: Er sah unzählige Menschen in weißen Gewändern, angezogen nach der großen Bedrängnis; niemand mehr litt Durst oder Hunger, reinstes Quellwasser verströmte sich und göttliches Licht lag über allen.

Und niemand mehr fragt nach der Herkunft derer, die aus allen Nationen kommen. Das war ein reiner, messianischer Traum; ein im ursprünglichen Wortsinn katholischer Traum, der alle umfing, Gott, die Menschen und die ganze Schöpfung. In diesem Traum fallen die Grenzen in jeder Hinsicht. Die Vergangenheit, so blutgetränkt sie auch war, verklärt ein überirdisches Licht; die Spuren von Krieg und Hass, von Verfolgung, Flucht und Abweisung sind getilgt; niemand mehr zerbricht sich seinen Kopf über politische oder religiöse Grenzen. Diese Plagen und ihre teils künstlichen Verschärfungen sind vorüber; in die herrliche messianische Welt reichen sie nicht mehr hinein.

Diesen Traum schrieb ein Mensch irgendwo im östlichen Mittelmeer auf, vor mehr als 1900 Jahren. Er träumte ihn angesichts des Wahnsinns von Kaiser Nero, der Verfolgungswellen verursachte und den messianischen Hoffnungen der frühen Christen schwer zusetzte. Und doch: So alt dieser Traum auch ist – er kommt mir so frisch und jung vor, als hätte ihn jemand eben erst geträumt.

Und ich sehe mich um. Alt geworden ist die nähere Umgebung, alt geworden bin ich; diesen Traum habe ich verloren. Ich lebe in einer irgendwie noch halbchristlichen Gesellschaft dahin und erfahre täglich von ihren Alpträumen. Blutverschmierte, schweißbedeckte Leute aus dem östlichen Mittelmeerraum wollen kommen und suchen Zuflucht auf einem immer noch irgendwie christlichen Kontinent. Hier aber werden nicht mehr messianische Träume geträumt, sondern Alpträume von Überfremdung, von kleinstteiliger Nächstenliebe, die sich mehr über den Ausschluss definiert als über die Zuwendung; Alpträume von neuen Grenzen; Alpträume mit ihren mächtigen Bildern, in denen zwei Gewalttäter Hunderttausende friedliche Flüchtlinge überlagern; Alpträume einer boshaften Welt, die außer ihrem Neid kaum noch etwas verteidigt und weder von Ostern noch von messianischen Träumen berührt ist, sondern sich den Kopf darüber zerbricht, wie viel Geld unsicheren Staaten gezahlt werden muss, damit sie Europa die Flüchtlinge vom Hals schaffen.

Bei Elie Wiesel, selbst einst ein staatenloser Flüchtling, habe ich einmal gelesen: Wenn Israel je seine großen Träume verlieren sollte, wird es aufhören zu existieren. Das christliche Europa jedenfalls ist drauf und dran, seine großen Träume in nationalistisch getränkten Alpträumen zu ersticken. Keine weiß Gewandeten ziehen herum, sondern mehr und mehr Leute in Tarngewändern, die einen morschen Kontinent ohne Träume und ohne offensive Hoffnungen schützen sollen; es wird penibel nach Herkunft und Nation gefragt, Durst und Hunger sind dem gegenüber sekundär. Und gleichzeitig will man das christliche Abendland verteidigen, gleichzeitig begeht man die Osterzeit?

Das kann nicht Ostern sein, was sich da zeigt. Das muss irgendetwas anderes sein, etwas, das aus einem antimessianischen Alptraum kommt und die Geister betäubt.

Aber solange ich zumindest noch solche verwegenen biblischen Träume lese und ihre Wärme fühle, solange ich noch hoffen kann, dass solche Träume wichtiger sind als eine verbissene Realität, solange werde ich auch die Hoffnung nicht aufgeben, dass es Ostern wird, irgendwann einmal, irgendwo, wer weiß…