Schatten eines Fahrrads

Murat Aluclu

Ö1 Kunstsonntag

Radreise als gelebte Solidarität

Der Publizistikstudent Murat Aluclu aus Istanbul trägt auf seine ganz persönliche Art zur armenisch-türkischen Versöhnung und allgemein zu mehr Solidarität mit gefährdeten Gruppen bei: In Etappen unternimmt er eine Radfahrt um die Welt. Im Gepäck trägt Aluclu einen Stein des Geburtshauses seines Vaters, das vor dem Genozid Armeniern gehört hat.

Radfahren als Manifest gegen Hass und Feindpropaganda

Im vergangenen Herbst in Tiflis, bei einer Aufnahme zum Ö1-"Nebenan"-Schwerpunkt Georgien, sprach mich ein freundlicher junger Mann aus Istanbul an: Murat Aluclu. Er erzählte von seiner Radreise quer durch die Türkei, die syrische Grenze entlang und durch Südostanatolien, wo im Rahmen der jüngsten türkischen Militäroffensive gegen kurdische Kräfte Städte und Dörfer zerstört und auch Zivilisten getötet wurden.

In Tiflis war Aluclu für DVV international (Deutscher Volkshochschul-Verband) tätig. Für diese NGO arbeitet er auch jetzt in der armenischen Hauptstadt Yerevan, im Rahmen eines vom DVV organisierten armenisch-türkischen Versöhnungsprojekts. Hier in Armeniens Hauptstadt haben wir uns wieder getroffen. Murat Aluclu hat mir erklärt, warum er mit dem Rad um die Welt fahren will und was das Motto dieses Vorhabens, "Honoring the Stone", besagen will.

Mann auf einem Fahrrahd

Murat Aluclu

Murat Aluclu am Fuße des Ararat

Vaterhaus gehörte deportierten Armenien

"Mein Vater kam in einem Haus zur Welt, das vor dem Genozid Armeniern gehört hatte. Letztes Jahr am 24. April, dem Völkermord-Gedenktag, radelte ich von Istanbul zu diesem Haus in Zentralanatolien, und nahm ein Stück Stein daraus mit; diesen Stein trage ich mit mir am Rad. - Denn ich begreife jeden Tag mehr, wie die Regierung und die Familien diesen Hass in der Gesellschaft schüren.

Ich stelle meine Identität und die Geschichte in Frage. Meine persönliche Verantwortlichkeit für diese Geschichte wollte ich durch meine Radreise ausdrücken. Radfahren ist meine Sprache für meine Solidarität mit den Leuten. Da geht es nicht nur um armenisch-türkische Versöhnung, sondern um alle auf der Welt, die Ungemach erleiden. Ich will damit sagen: ich komme mit dem Rad zu Euch, ich bin, so sehr ich kann, an Eurer Seite."

In Yerevan, wo er seit März lebt, wird Aluclu als Türke so gut wie nie schief angesehen. In Armenien zeigen sich die Menschen allgemein sehr offen und aufnahmebereit für Fremde. Man fühlt sich schnell inkludiert.

"Hier erlebe ich viel Wärme. In kleinen Gruppen, die sich für zeitgenössische Kunst oder Tanz interessieren, finde ich Anschluss. Zum Beispiel kam ein Kurator zu mir, der gehört hatte, dass ich silent parties veranstalte. Er sagte, lass uns in Yerevan eine silent party organisieren. Genau das suche ich - etwas gemeinsam zu kreieren. In Yerevan geht das."

"Ich möchte die Welt sehen. Wegen der Leute."

Aluclu könnte sich sogar vorstellen, später in Armenien zu leben. Doch für jetzt zieht es ihn weiter: schließlich ist sein "Honoring the Stone"-Projekt als Radreise um die Welt angelegt. Und in der Türkei sieht er mit seiner Ausbildung als Journalist derzeit keine Option zu leben und zu arbeiten.

"Die Türkei ist für mich erledigt. Ich plane ja, mit dem Stein aus dem Vaterhaus um die Welt zu radeln. Mitte, Ende Juni will ich in den Iran, und dann nach Ankara, wegen eines Visums für Pakistan, und für Indien."

Wie steht sein Vater zu Aluclus Vorhaben und dessen Sicht auf die Dinge?

"Er reflektiert das überhaupt nicht politisch. Als ich ihm erzählte, das ich einen Stein aus dem Haus mitnehme, sagte er nur: Dieses Gebäude ist schon verfallen und die ganze Geschichte ist vorbei. Aber ich mache das nicht für die Vergangenheit, sondern ich fühle mich verantwortlich für die Gegenwart und Zukunft. Ich kreiere mit meinem Rad die friedliche Welt, die ich mir vorstelle."

Ein Mann hält die Hand ans Ohr, um besser zu hören

Murat Aluclu

Murat Aluclu

Positiver Einfluss auf sein Umfeld

"Ob das ein Beispiel darstellen kann? - Jedenfalls ist es mir gelungen, die politischen Ideen meiner Eltern zu ändern. Wegen Erdogans Referendum über die Ausweitung seiner Macht bin ich zwischendurch nach Istanbul zurückgekommen; in Armenien gibt es ja keine türkische Botschaft, wo ich meine Stimme hätte abgeben können. Meine Familie konnte ich überzeugen, dass sie mit Nein stimmt. Meine Familie ist nicht besonders gebildet, sie lässt sich vom Fernsehen manipulieren."

In Indien möchte Aluclu versuchen, eine landwirtschaftliche Kommune zu finden, der er sich anschließen kann.

"Ich möchte ein anderes System ausprobieren; ich weigere mich, wie eine Wildkatze in einer Megacity wie Istanbul zu überleben. Wo schon im Bus die Leute drängen und stoßen, um überhaupt einen Platz zu bekommen.
Ich suche noch nach einer möglichen Lebensform. Denn das Reisen ist ja etwas Temporäres.

Viele in meiner Generation suchen zwar nach Alternativen, aber sie geben dann oft ihre Träume auf. In der Türkei zum Beispiel machen meine Kollegen ihren Master, obwohl das überhaupt keinen Sinn mehr hat. Denn die guten Professoren wurden aus der Akademie geworfen. Aber ein Teil der Leute macht weiter den Master; sie schrecken vor den Herausforderungen des wirklichen Lebens zurück.
Einige wenige riskieren doch etwas, und probieren etwas eigenes.

Auf der Reise habe ich eine Iraner getroffen, der eine Doku über Homs in Syrien dreht. Er machte mir Mut, in die kurdischen Städte der Südosttürkei zu fahren, die im Bürgerkrieg voriges Jahr zerstört wurden. Ich bin sehr froh, dass ich dort die wahre Bedeutung der Wörter Solidarität und persönliche Verantwortung entdecken konnte.

Zerstörte kurdische Städte, Bewohner ständig bedroht

Die Leute dort sagten mir, dass sie das Sprechen mit Besuchern vermisst hatten. Wir isolieren die Leute, weil wir uns nicht der Gefahr an solchen Orten aussetzen wollen. Ich riskierte also ein bisschen etwas im Vergleich zu denen, die immer dort leben. In einer dieser Städte hausten alle 80.000 Einwohner in Zelten, in Häusern von Verwandten oder Tankstellen.

Eine dieser Städte, Harkyari, liegt in einem Talkessel zwischen Bergen. Auf jedem Berg gibt es eine türkische Militärbasis. Da fühlte ich mich schon in der kurzen Zeit wie in einem Gefängnis - immer unter Beobachtung. Ich setzte mich dem nur zwei Tage lang aus. Aber für die die dortige Bevölkerung ist das alles ein Dauerzustand; und ich sehe, wie sie leiden."

Service

Facebook - Honoring Stone

Gestaltung

  • Dorothee Frank