Kopie von Auguste Rodins "Denker" in einer Pariser U-Bahn-Station

AFP/PATRICK KOVARIK

"Fast unheimlich modern"

Neuübersetzung von Pascals "Pensées"

Der Autor und Übersetzer Bruno Kern hat eine neue vollständige Ausgabe von Blaise Pascals "Pensées" vorgelegt. Mit seiner Übersetzung und der Anordnung der Fragmente - ein fast unheimlich modernes Leseerlebnis.

In der Nacht auf den 19. August 1662 verstarb der Mathematiker, Physiker und Philosoph Blaise Pascal im Haus seiner Schwester Gilberte in der Stadt Clermont. Der 39-Jährige hatte ein arbeitsames Leben hinter sich. Schon in frühen Jahren zeigte er eine außergewöhnliche mathematische Begabung, veröffentlichte Traktate zu komplexen geometrischen Problemen und konstruierte zwanzigjährig die sogenannte Pascaline, eine der frühesten Rechenmaschinen.

Eine gelehrte Auseinandersetzung über das Vakuum mit René Descartes und die Ausarbeitung der Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung machten ihn zu einer Autorität auf seinen Wissensgebieten. In seiner zweiten Lebenshälfte beschäftigte er sich neben seinen Naturwissenschaftlichen Studien intensiv mit der christlichen Religion.

Pascal griff mit seinen "Provinzialbriefen" in theologische Diskussionen ein und nahm Partei für die am heiligen Augustinus orientierten Jansenisten, die in den 1650er Jahren zunehmend in ein Spannungsverhältnis zum Papst gerieten. Die letzten sechs Jahre seines Lebens verbrachte der Ausnahmegelehrte mit den Vorbereitungen zu einem monumentalen Text über den christlichen Glauben, der "Apologie der christlichen Religion".

Nach seinem Tod fand man in Pascals Nachlas über 800 Zettel unterschiedlicher Formate, die größtenteils die Materialsammlung zu diesem Traktat bildeten. Die Fragmente haben seit ihrer Erstveröffentlichung 1670 in etlichen Editionen unter dem Titel "Pensées" für intellektuelle Furore gesorgt und verfehlen diese Wirkung bis heute nicht. Besonders jene Fragmente, die um die Erkenntnisfähigkeit und die niederen Leidenschaften der Menschen kreisen - in Pascals Worten die Größe und das Elend des Menschen - sind in ihrer pointierten Ironie bis heute fesselnd.

Bruno Kern vollständige Ausgabe

Der Autor und Übersetzer Bruno Kern hat kürzlich im Marixverlag eine neue vollständige Ausgabe der "Pensées" vorgelegt. Nach dem Lesen der kundigen Einleitung taucht man neugierig in Kerns Version des Klassikers ein. Eines hat die Editionsgeschichte des Pascalschen Textes nämlich gezeigt: Das Leseerlebnis hängt wesentlich von den Entscheidungen des Herausgebers ab. Kern hat sich mit seiner Übersetzung und der Anordnung der Fragmente zum Ziel gesetzt, den modernen Leser anzusprechen. Seine thematische Neuanordnung der Texte verzichtet daher auf systematisierende Bemühungen, wie sie für wissenschaftliche Ausgaben der "Pensées" üblich sind.

Das hat einen interessanten Effekt: Die berühmten Passagen Pascals über den "Deus Absconditus" - den verborgenen Gott - und die längere ausgearbeitete Passage, die auf Grundlage der Wahrscheinlichkeit argumentiert, warum es klüger ist auf die Existenz Gottes zu wetten als gegen diese, werden durch Fragmente kontextualisiert, die ähnliche Formulierungen verwenden, aber vermutlich in Pascals fertigem Traktat einer ganz unterschiedlichen Argumentation gedient hätten. Jedenfalls ist Kerns Anordnungsversuch gut dazu geeignet, sich die "Pensées" in verdaulichen Portionen anzueignen. Hierbei unterstützt das von Kern erarbeitete Register wesentlich.

Bei den Kommentaren beschränkt sich Kern auf Hinweise auf religiöse Texte und wenige Erläuterungen, die den Zusammenhang einiger Fragmente beleuchten. Im Vergleich zur Standardedition von Phillipe Sellier fällt eine Aussparung in den Kommentaren deutlich auf. Sellier dokumentiert akribisch Pascals Auseinandersetzung mit den "Essais" seines Zeitgenossen Michel de Montaigne. Einige der Fragmente sind gar reine Lektürenotizen Pascals, die auf die Seitenzahl in den "Essais" verweisen. Hiervon erfährt man bei Kern nichts.

Ein fast unheimlich modernes Leseerlebnis

Die kundige Neuübersetzung fällt äußerst elegant aus und rundet das editorische Vorhaben einer modernen Leseausgabe ab. Besonders die kurzen und pointierten Fragmente kommen in Kerns Übersetzung zur Geltung:

"Dieser Hund gehört mir", sagten diese armen Kinder. "Das hier ist mein Platz an der Sonne." Hier haben wir den Anfang und die Vorstellung der gewaltsamen Inbesitznahme der ganzen Erde. (S. 50)

Bruno Kerns Neuausgabe der "Pensées" macht den klassischen Text zu einem fast unheimlich modernen Leseerlebnis. Durch ihre thematische Anordnung lesen sich die Pascalschen Notizen als wären sie bewusst als Fragmente verfasst und entstammten der Feder eines gewitzten Beobachters der Gegenwart, der mit augenzwinkernder Verbindlichkeit auf Erscheinungen und Laster unserer Gegenwart hinweist:

Der Genuss am Ruhm ist so groß, dass man ihn liebt, egal, mit welcher Sache er in Zusammenhang steht, selbst wenn es sich um den Tod handelt. (S. 57)

Wer eine Ausgabe der "Pensées" sucht, die das Faszinosum der Sätze Pascals in eine zeitgemäße Form bringt, ist mit dieser Neuausgabe bestens bedient.

Text: Florian Baranyi

Service

Blaise Pascal, "Gedankes - Pensées", vollständige Ausgabe, übersetzt und herausgegeben von Bruno Kern, Marix Verlag, Wiesbaden, 2017, 448 S.