Gedanken für den Tag

von Gerhard Langer. "Zum jüdischen Purim-Fest oder Nicht jedes Jahr geschieht ein Wunder"

Gerhard Langer ist Professor für Geschichte, Religion und Literatur des Judentums an der Universität Wien.

Die Erzählung von Ester ist eines der faszinierendsten Bücher des Alten Testaments. In ihm ist zum ersten Mal in der Bibel vom Versuch, ein Volk - nämlich das jüdische - zur Gänze auszulöschen, die Rede. Die wunderbare Rettung geschieht durch Weisheit, Gottvertrauen und Eigeninitiative, geführt von einer Frau. Bis heute erinnert das Fest Purim an diese Erzählung. Die jüdische Tradition hat Ester wie ihren Onkel Mordechai auf vielfältige Weise weiterentwickelt, hat die Botschaft jeweils aktualisiert, von den mittelalterlichen Pogromen bis zu Hitlers Vernichtungskrieg weitergesponnen.

Grundlegende Elemente sind heute so aktuell wie damals. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Völkermord begegnen ebenso wie die unerschütterliche Hoffnung auf einen Gott, der im Verborgenen dennoch nicht abwesend ist, der, mit der tatkräftigen Hilfe der Menschen, rettet. Dass gerade Purim oftmals karnevalistische Züge annimmt, ist Ausdruck dieses niemals endenden Hoffens auf eine bessere Welt, die wohl nie ohne Wunder auskommt. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Klage und Gebet

Die jüdische Tradition hat Ester vom hebräischen Wort für verbergen, hastir, abgeleitet.

Die Ester aus dem gleichnamigen biblischen Buch verbirgt lange Zeit ihre Herkunft vor dem König. Ihre Verborgenheit wird in der Tradition auch mit dem Verbergen Gottes in Zeiten der Not in Verbindung gebracht (Chul 139b). Gerade das Esterbuch zeigt, dass Gott dort, wo er nicht sichtbar ist, durch eine Reihe von Zufällen und wundersamen Ereignissen mehr denn je präsent ist. Gleichzeitig ist gerade diese Erzählung in ihrer Schilderung der Bedrohung bis zum Tod ein erschreckendes Zeugnis einer Welt, in der Mord und Genozid drohen. Seit der Shoah, der Vernichtung eines großen Teils des europäischen Judentums, ist dies mehr denn je auch eine Anfrage an den abwesenden Gott. In seinem hervorragenden Stück "Der Prozess von Schamgorod" beschreibt Elie Wiesel eine Purimspielgruppe, die durch polnische Orte reist, um die Geschichte der Ester zu spielen. In Schamgorod müssen die Spielleute feststellen, dass fast alle jüdischen Bewohner durch ein Pogrom getötet wurden, nur ein Wirt und seine Tochter haben überlebt. Sie ist mehrmals vergewaltigt worden und nun geistig umnachtet. Die Spielleute beschließen angesichts dieser Erfahrung, nicht die befreiende Botschaft von Ester zu spielen, sondern einen Prozess zu veranstalten, dessen Angeklagter Gott selbst ist. Die Menschen, die Gott anklagen, stehen auf der Seite des Lebens. Ja, sie stehen auch auf der Seite Gottes, da sie ihn in seiner Offenbarung und seinem Wirken ernstnehmen und wie einst Ijob auf die rettende Kraft dieses Gottes vertrauen und am Ende des Prozesses beten.

Glaube schließt Klage, ja selbst bittere Anklage nicht aus, denn es ist das Gegenteil von Kadavergehorsam. Der Glaubende darf streiten, kämpfen für sein Recht und dabei auf den immer größeren Gott und seine Gerechtigkeit vertrauen.

Service

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Sendereihe

Playlist

Titel: Ansage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

Titel: GFT 110323 Gedanken für den Tag / Gerhard Langer
Länge: 02:41 min

Titel: Absage "Gedanken für den Tag"
Länge: 00:10 min

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