Radiogeschichten

"Unter Generälen". Von Antonio Tabucchi. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Es liest Cornelius Obonya. Gestaltung: Roland Knie

Geschichte besteht - auch wenn das der gängige Historienkitsch nicht wahrhaben will - vornehmlich aus Geschichten, und diese wiederum müssen erzählt werden, um entweder wahr zu sein oder doch plausibel oder zumindest verständlich.

Ansonsten müssen die Geschichten und muss die Geschichte neu erzählt werden: Der fast neunzigjährige alte Mann in seinem Apartment im Wolkenkratzerlabyrinth von New York zum Beispiel könnte schwören, in jungen Jahren als ungarischer Offizier im Herbst 1956 im blutigen Aufstand gegen die einrollenden Sowjetpanzer gekämpft zu haben und von einem Rotarmisten an das anschließende Kriegsgericht verraten worden zu sein. Die mottenzerfessene Generalsuniform der ungarischen Armee, die er hierher, nach Manhattan, mitgenommen hat, deutet aber doch darauf hin, dass er, László, doch irgendwann höchsten Rang und Namen gehabt haben muss.

Natürlich: 1989, als mit den Sowjetkolonien auch Ungarn frei wurde, hatten sie ihn, der so viele Jahre im Kerker gesessen war, plötzlich so hoch geehrt. Und er hatte daraufhin, so erinnerte er sich jetzt, in einem Fast-Food-Laden an Hühnerknochen kiefelnd, sofort einen dem neuen Geheimdienst bestens bekannten ehemaligen Sowjet-General namens Dimitrij angerufen. Es war, unwahrscheinlich genug, unter Millionen Dimitrijs genau jener, der verräterische Dimitrij von damals.

Dass der ihn aber nach Moskau eingeladen und dass er, László, dort mit dem andern General die schönsten Tage seines Lebens verbracht habe - das kann er auch nur den übrigen ungarischen Emigranten in dem Fast-Food-Laden erzählen, weil die derart unwahrscheinliche Geschichten gewohnt sind.

Service

Antonio Tabucchi, "Unter Generälen" aus "Die Zeit altert schnell. Erzählungen", Hanser, 2010

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