Gedanken für den Tag

von Michael Chalupka. "Die Welt ist nicht die Welt nur eines Menschen". Ein Jahr nach Fukushima. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Vor einem Jahr, kurz nach dem Atomunfall in Fukushima, hat Michael Chalupka, der Direktor der evangelischen Hilfsorganisation Diakonie, Japan besucht. In den "Gedanken für den Tag" erzählt er von seinen persönlichen Eindrücken und Erfahrungen, vom Verlust der Unbeschwertheit, von kleinen Zeichen dafür, dass das Leben weitergeht, von Partnerschaften über Länder und Kontinente hinweg, die sich gerade in Krisenzeiten als tragfähig erweisen und von der Einsicht, die ein japanisches Sprichwort beschreibt: "Die Welt ist nicht die Welt nur eines Menschen".

Der Einbruch des Chaos in die Welt der gemeinschaftlichen Ordnung

Geigenunterricht auf Japanisch ist gewöhnungsbedürftig. Musikerziehung bei den Kleinsten dient zuallererst dem Erleben von Gemeinschaft und dem Erlernen der Regeln, die in Gruppen gelten. 30 Kindergartenkinder, die gleichzeitig mit ihren Bogen Achtelgeigen bearbeiten, klingen wie sie klingen. So ist das auch in der Musikschule in Utsonomya, einer Tochterschule der Johann Sebastian Bachmusikschule der Diakonie in Wien.

Gestern vor einem Jahr klang gemeinschaftliches Geigengequietsche durch die Klassen. Doch als kurz vor drei Uhr nachmittags die ersten Kinder ihre Geigenkästen schulterten und die Ohren der österreichischen Musiklehrerinnen sich zu beruhigen begannen, da brach sich ein anderer, nie gehörter Lärm Bahn. Die Mauern schwankten, Regale fielen um, niemand konnte sich auf den Beinen halten. Das stärkste Erdbeben, das Japan je erlebt hat, dauerte eine Ewigkeit von fünf Minuten.

Japanische Kinder werden darauf gedrillt, ihren wattierten Kopfschutz überzuziehen, unter Tischen Schutz zu suchen, sich in der Gruppe diszipliniert zu verhalten. Auch diesmal schien nach einer ersten Inspektion zwar alles verwüstet, aber in der Substanz in Ordnung zu sein. Niemand wurde ernsthaft verletzt.

Dann kamen die Nachrichten über die Verwüstungen durch den Tsunami und über die Beschädigung des Kernreaktors in Fukushima, nur 100 Kilometer von Utsonomya entfernt. In Österreich jagte eine Sondersendung die nächste. Japan war auf einmal ganz nah. Unsere Partner in Utsonomya reagierten so, wie sie es als Kinder schon gelernt hatten: diszipliniert und in der Gemeinschaft.

Vier Monate nach dem Beben besuchte ich Japan. Woher diese disziplinierte Gelassenheit in Zeiten der Katastrophe käme, fragte ich den Leiter der Schule, Tatsuo Yamamura. Er antwortete: "Man kann alles wiederaufbauen, aber die 20.000 Toten, die der Tsunami uns geraubt hat, kann niemand zurückbringen."

Der Schmerz sitzt tief, zu tief, als dass man ihn dem Chaos ausliefern könnte.

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Titel: GFT 120312 Gedanken für den Tag / Michael Chalupka
Länge: 03:49 min

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