Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Frühling - immer wieder gelingt es". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Die Natur und der Mensch, das Leben und die Liebe - im Frühling scheint alles noch einmal ganz neu zu beginnen; sogar in der Politik steht "Frühling" für einen Neubeginn. Und Gedichte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart sind voll von Frühlingsdüften, erstem Vogelzwitschern und neuen Hoffnungen oder, wie ein Gedicht von Eugen Gomringer beginnt: "Frühling - immer wieder gelingt es".

Blüht nicht zu früh, ach blüht erst, wenn ich komme,
dann sprüht erst euer Meer und euren Schaum,
Mandeln, Forsythien, unzerspaltene Sonne -
Dem Tal den Schimmer und dem Ich den Traum.

So beginnt das Gedicht "März. Brief nach Meran" von Gottfried Benn. Die Südtiroler Kurstadt Meran ist ein besonderer Ort für Gedichte - viele Dichter hat es dorthin gezogen, und im Mai wird dort wieder ein wichtiger Lyrikpreis vergeben. Und Meran, wo man schneebedeckte Berge und Palmen gleichzeitig sehen kann, ist auch ein besonderer Ort für den Frühling. Ja, der Frühling hat seine besonderen Orte, wo man ihn früher spürt, intensiver riecht oder klarer zu sehen bekommt. Und Gottfried Benns Gedicht hat eine Formel gefunden für Frühlings-Gefühle und Frühlings-Gedichte: "Dem Tal den Schimmer und dem Ich den Traum." Denn eines fällt auf. Es gibt wohl Sommer-, Herbst- und Wintergedichte, die einfach nur eine Landschaft beschreiben, doch den Frühlingsgedichten scheint das nicht zu gelingen. Immer wird der Bogen zum Ich geschlagen - mal ist es ein sanfter Übergang von der Außenwahrnehmung in die Gefühle und Gedanken, mal ein abrupter Sprung. Aber praktisch kein Gedicht kann bei der Landschaftswahrnehmung stehenbleiben. "Dem Tal den Schimmer und dem Ich den Traum" - Gottfried Benns Formel ist genial, denn was wäre das Tal, die Frühlingslandschaft, ohne den Traum.

In manchen älteren Frühlingsgedichten hat die Landschaft schon deutlich Patina angesetzt. So etwa in der Beschreibung des vor 150 Jahren verstorbenen schwäbischen Romantikers Ludwig Uhland:

Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!

Doch das Gedicht heißt ja "Frühlingsglaube", und so springt es vom Duft und Klang des Frühlings unmittelbar in die menschliche Befindlichkeit:

Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.

Und dieser Frühlingsglaube, mit dem Uhland beide Strophen seines Gedichts beschließt, ist uns wahrscheinlich näher als seine Landschaftsbeschreibung: "nun muss sich alles, alles wenden" - man müsste doch aus Stein sein, um das nicht wenigstens manchmal im Frühling zu glauben.

Service

Buch, Gottfried Benn, "Gedichte in der Fassung der Erstdrucke", Fischer Taschenbuch Verlag
Buch, Ludwig Uhland, "Gedichte", Reclam Universalbibliothek
Buch, Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, "Frühlingsgedichte", Reclam Universitätsbibliothek

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Titel: GFT 120319 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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