Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell. "Frühling - immer wieder gelingt es". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Die Natur und der Mensch, das Leben und die Liebe - im Frühling scheint alles noch einmal ganz neu zu beginnen; sogar in der Politik steht "Frühling" für einen Neubeginn. Und Gedichte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart sind voll von Frühlingsdüften, erstem Vogelzwitschern und neuen Hoffnungen oder, wie ein Gedicht von Eugen Gomringer beginnt: "Frühling - immer wieder gelingt es".

Lange bevor
Wir uns stürzten auf Erdöl, Eisen und Ammoniak
Gab es in jedem Jahr
Die Zeit der unaufhaltsam und heftig grünenden Bäume.

Bertolt Brecht räumt in seinem Gedicht "!Über das Frühjahr" kräftig auf mit den schönen Landschaftsbildern. Verlängerte Tage, der hellere Himmel und die Änderungen der Luft - nur noch Erinnerungen, konstatiert Brecht. In Büchern wird noch der Frühling gefeiert, aber die Vogelschwärme wurden über den Städten schon lange nicht mehr gesichtet. Und das Gedicht schließt:

In großer Höhe freilich
Scheinen Stürme zu gehen:
Sie berühren nur mehr
Unsere Antennen.

Wo einst unmittelbares Erleben war, ist jetzt nur mehr technische und mediale Vermittlung, konstatiert Brecht. Was er sich noch nicht vorstellen konnte: Mancher Städter ladet sich heute vielleicht eher ein Frühlingsbild als Bildschirmschoner herunter, als dass er den Frühling in der Natur erlebt.

Aber ist Brechts Gedichtschluss nicht auch doppeldeutig: die Frühlingsstürme "berühren nur mehr / Unsere Antennen" - heißt das nicht auch: Wir haben noch Antennen für den Frühling. Antennen nennt man ja nicht nur die technischen Geräte, sondern auch das Gespür für etwas.

"Der März in der Luft des Hochhauses" heißt ein Gedicht von Jürgen Becker. Es malt ein Bild vom Frühling in der Stadt. "Jetzt sind es / die Geräusche der Kinder; zwischen den Wohnblocks, / auf den Flächen der Tiefgarage, so etwas wie / Leben; das ist jetzt neu", konstatiert Becker; und der Frühling in seinem Gedicht betrifft durchaus nicht nur die Kinder, denn die Fortsetzung lautet: "Und es ist hell; / wir kommen aus den Büros und sehen / die Sonne noch über den Hügeln, dem Rauch / den Raffinerien." Während bei Brecht die Industrielandschaft die traditionelle Frühlingsszenerie ersetzt hat, sind bei Becker beide eine Verbindung eingegangen. Oder doch nicht - denn in weiterer Folge schwenkt der Blick in die Dörfer, von grün werdenden Äckern ist die Rede und vom Wiederentdecken der Farbe. Und der Blick ist "über Reste ein Blick". Also noch einmal die Frage: Was ist geblieben vom Frühling? Und was verlieren wir, wenn uns auch diese Reste noch abhandenkommen?

Service

Buch, Jan Knopf (Hg.), "Bertolt Brecht. Die Gedichte. Die Sammlungen. Die Einzelgedichte", Suhrkamp Verlag
Buch, Jürgen Becker, "Gedichte 1965 - 1980", Suhrkamp Verlag
Buch, Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, "Frühlingsgedichte", Reclam

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120323 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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