Gedanken für den Tag

5. November 2012, 06:56

Gottessegen

In unserer Kindheit hatten meine Geschwister und ich, als wir noch im Elternhaus wohnten, eine Kinderbibel. Ein kleines Buch in Querformat, heller Leineneinband mit roter Schrift, vom vielen Blättern schon etwas aufgelöst. Fünfzig Bibelgeschichten, auf einer Seite der Text, auf der anderen das dazugehörige Bild. Ich weiß nicht mehr, ob ich die Geschichten selber las oder vorgelesen bekam. Untrennbar gehören aber seither zu jeder der Bibelgeschichten für mich deren Illustrationen dazu.

Meiner Erinnerung nach ist Gott auf diesen vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammenden bunten Bildern meist von einem Strahlenkranz umgeben.

An manchen bewölkten Tagen gibt es ein Himmelsschauspiel zu sehen - unter einer die Sonne verdeckenden Wolke am Horizont erscheint ein Fächer von Lichtstrahlen, die sich zur Erde oder zum Meer hin ausbreiten. Ich führe es auf die Erinnerung an unsere Kinderbibel zurück, dass ich dieses Phänomen innerlich immer als Gottessegen empfunden und für mich so genannt habe. In meiner Sprache, Isländisch, nennt man die Erscheinung "sólstafir", was so viel heißt wie Sonnenbuchstaben oder Sonnenzeichen.

Beim Erklingen von Schuberts Musik widerfährt mir gelegentlich Ähnliches. Sie ruht mit solch einer unschuldigen und selbstverständlichen Gelassenheit in sich, dass ich selber gelassen werde, Vertrauen empfinde, Entlastung. Alles wird hell und klar. Soeben noch empfundener Kummer verblasst durch die schlichte Schönheit der Musik, scheinbare Probleme werden nichtig. Als erreichten mich die Strahlen eines von oben gesandten Fächers aus Klängen, die in mir eine sonnige Leichtigkeit auslösen, wie ein musikalischer Segen.

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