Zwischenruf

von Martin Schenk (Wien)

"Wir sind völlige Anfänger" - Vom zur Welt kommen und zur Welt bringen
von Martin Schenk, evangelische Diakonie

Es beginnt mit der Geburt eines Babys durch eine junge Frau in einem kalten Unterschlupf in Betlehem. Ein unbedeutendes Nest wird zum Nabel der Welt. Weihnachten war das Fest des Anfangens. Ein einziger Aufstand gegen die Todesversessenheit und die Geburtsvergessenheit. Und Ostern wird es noch viel mehr.

Immer wieder anfangen können, das ist eigentlich eine Riesenmöglichkeit. Wir sind völlige Anfänger, "we are absolute beginners" - immer wieder irgendwo bei irgendetwas. Das ist hilfreich, tröstlich, motivierend und gut gegen Überheblichkeit. Und es ist eine geheimnisvolle Kraft.

Das kann man bei den Expertinnen des Anfangs sehen, den Hebammen. Sie helfen, etwas zur Welt zu bringen, ohne selbst zu gebären. Sie sind Begleiterinnen, wenn etwas neu geboren wird. Sie unterstützen, sorgen, begleiten, horchen. Das ist eine ungeheuer wichtige Tätigkeit, die uns in vielen Bereichen hilfreich ist: in der Familie, in allen Berufen, die mit Menschen zu tun haben - von der Jugendhilfe bis zur Altenpflege, - besonders aber in der Schule. Lehrer sind eigentlich Hebammen: Gute Bedingungen fürs Lernen zu schaffen und zu helfen, dass Schüler für sich etwas zu Wege und zur Welt bringen. Der Blick auf die Tätigkeit der Hebamme zeigt, welche Kraft es hat, zu assistieren, zu unterstützen, in Beziehung zu leben.

Der Anfang ist zentral. Eine liebevolle Bindung zwischen Eltern und Kind legt den Grundstein für ein gutes Aufwachsen. Der Mensch wird am Du zum Ich. Wir brauchen den anderen, um zu uns selbst zu kommen. Kinder mit sicherer Bindung sind selbstbewusster, weniger depressiv und haben größeres Einfühlungsvermögen. "Die wirklichen Beziehungen zwischen Menschen sind immer ein Angewiesensein, ein einander Brauchen, eine codependency", bemerkt die Theologin Dorothee Sölle. "Wir sind einfach kleiner, dümmer, hässlicher ohne die Liebe, ich muss nicht mein eigenes Lebensbrot backen, ich muss nicht meine eigene Kraftspenderin oder mein Tröster sein, ich muss nicht nur ich selber sein." Niemand ist das, was er ist, ohne die sorgenden und unterstützenden Tätigkeiten anderer. Als Sorgende tätig sein und der Sorge anderer bedürfen ist existentiell. Von Geburt an. Dass Menschen einander brauchen ist der menschliche Normalzustand.

Wenn die Fähigkeit, sich einzufühlen, sich anrühren zu lassen, solidarisch zu handeln in der Bibel zu Sprache kommt, dann heißt das dort wörtlich, dass "die Gebärmutter sich mächtig regt, bewegt, zerreißt". Das ist nicht auf Frauen beschränkt. Diese Fähigkeit wird für Männer und Frauen verwendet. Dann fühlst du mit, dann geht dir etwas nahe, dann spürst du die Welt eines anderen.

Welche Kraft darin steckt, hat Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckmann entdeckt. Investitionen im frühkindlichen Bereich haben den höchsten "return on investment", zahlen sich aus. Ein investierter Dollar entspricht einer Rendite von 8 Dollar, bei benachteiligten Kindern beträgt sie sogar 16 Dollar. Heckmann weist darauf hin, dass es nicht allein um Wissensförderung geht, sondern um das Wachhalten des Interesses an der Welt. Der Unterschied bei den Kindern war die Neugier, die Weltzugewandtheit.

Die Philosophin Hanna Arendt spricht da von einer zweiten Geburt. "Nackt geboren in eine Welt können wir sprechend und handelnd Initiativen ergreifen und gleich einer zweiten Geburt unser Geborensein bestätigen". Als Hannah Arendt auf der Flucht vor den Nazis war, kommt ihr diese "zweite Geburt" in den Sinn. Als Vertriebene, ohne Reisepass, die sie im Niemandsland zwischen dort und da geworden war - erkennt sie, dass ihre nackte Geburt ihr keine Rechte sichert. Sie war vogelfrei, der "Herrschaft des Niemand", wie sie die Behörden bezeichnete, ausgeliefert. Erst diese zweite Geburt, der sprechende und handelnde Eintritt in die Welt, stattet uns mit Rechten aus. Das ist eine Erfahrung, die Vertriebene und Rechtlose auch heute machen.

Aufgrund unserer Gebürtigkeit sind wir Einzigartige unter vielen Einzigartigen auf der Welt. Jeder ist eine Welt. Im jüdischen Talmud heißt es: Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.

Es ist diese zweite Geburt, die Menschenrechte an uns bindet, die Verträge und Grundrechte zur Welt bringt. Durch Erkämpfen, durch Erringen, durch verhandeln. Ohne Anfangen geht gar nichts. Sollen in dieser zweiten Geburt soziale und politische Rechte zur Welt kommen, braucht es auch diejenigen, die sie zur Welt bringen. Und jene - Hebammen gleich-, die helfen, etwas zur Welt zu bringen, ohne selbst zu gebären.

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