Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant. Den Himmel suchen. Gestaltung: Alexandra Mantler

Über die Schriftstellerin Toni Morrison, die vor 20 Jahren den Nobelpreis für Literatur erhielt:

Eines Tages war die Schriftstellerin Toni Morrison zu Gast in einer berühmten Talk Show.

Manche ihrer Sätze müsse man zweimal lesen, sagte die Moderatorin zu Morrison. Sie spielte damit auf die Komplexität ihrer Romane an. Toni Morrison erwiderte: Das, meine Liebe, nennt man lesen.

Das nennt man lesen: Manche Sätze zweimal lesen.

Nach Genusslektüre klingt das nicht. Und tatsächlich machen Morrisons Texte das, wovon sie erzählen: Sie arbeiten etwas durch, sie erinnern wieder und wieder. Viele Bilder sind als Blitzlichter aus der Vergangenheit eingeschrieben, manche Verbindungen erkennt man erst, wenn man das Buch zum dritten Mal liest. Vieles geht hier gleichzeitig vor, und viel Vergangenheit schiebt sich störend in die Gegenwart.

Es ist also wie im richtigen Leben.

Da geht es auch nie geradlinig und störungsfrei zu, selbst wenn man sich das noch so sehr wünscht, da heilt die Zeit nicht alle Wunden von selbst, da kann nicht immer alles in Sprache gebracht werden - und ist doch da.

Aber wozu sollte man sich mit solcher Literatur plagen, bei der man manche Sätze zweimal lesen muss - wenn das Leben eh schon Plage genug ist?

Nun, ich denke, man kaut mit solchen Texten nicht einfach nur Texte durch, sondern immer auch das eigene Leben. Morrison erzählt von Schuld und wie sie einen zerfressen kann, wenn man nichts dagegen tut. Sie erzählt von Traumata, die sich nicht in Sprache fassen lassen und die man umso schwerer loswerden kann. Sie erzählt über die Sehnsucht nach dem Paradies und darüber, was passieren kann, wenn man solche Paradiese um alles in der Welt gegen andere verwirklichen will. Und sie erzählt von Liebe, die manchmal dem Hass täuschend ähnlich sieht - oder umgekehrt.

Morrison ist überzeugt, dass ihre Figuren am Ende eine emotionale und intellektuelle Epiphanie erreicht haben, dass etwas sichtbar wird, dass sich etwas ereignet. Dafür hat sich der steinige Weg gelohnt hat. Das gilt wohl auch für die Leserinnen und Leser ihrer Romane.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Miles Davis/1926 - 1991
Album: BLUES / STANDARDS - THE CBS YEARS 1955-1985
Titel: All blues/instr.
Solist/Solistin: Miles Davis /Trompete m.Begl.
Länge: 02:00 min
Label: CBS 4632462

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