Gedanken für den Tag

Von Johanna Schwanberg, Kunstwissenschaftlerin und Direktorin des Wiener Dommuseums. "Kunst verändert das Leben" - Zum 40. Todestag des Dompredigers und Kunstförderers Otto Mauer

Ein schmales, extrem hochformatiges Blatt. Darauf eine rätselhafte, steinern wirkende Figur in Profilansicht. Sie sitzt starr da und blickt in die Ferne. Auffällig sind die überdimensionalen Flügel und die groben Gesichtszüge. Das Blatt erscheint nicht nur aufgrund der geheimnisvollen Gestalt bedrohlich, sondern auch wegen der dunklen Farbigkeit und der schluchtartigen Enge der Umgebung. Die Tusche-Federzeichnung hat der Künstler Alfred Kubin um das Jahr 1902 oder 1903 geschaffen.

Genauso interessant wie die Darstellung selbst ist für mich ein handschriftlicher Text auf dem Karton unterhalb der Tuschezeichnung: "Sphinx - Zum 24.12.45 für Professor Dr. Otto Mauer". Alfred Kubin hat also diese rätselhafte Zeichnung zu Weihnachten im Jahre des Kriegsendes dem Domprediger und Kunstförderer geschenkt. Es ist wohl kein Zufall, dass er sich dabei für eine Sphinx entschieden hat. Denn diese gilt seit alters her als Symbol der Weisheit, auch der Rätselhaftigkeit und Unsterblichkeit.

Altersbedingt habe ich weder Alfred Kubin noch Otto Mauer persönlich kennengelernt. Aber die 3000 Werke umfassende Kunstsammlung Otto Mauers im Wiener Dommuseum gibt mir die Möglichkeit, dem Theologen und Mentor der österreichischen Nachkriegsavantgarde näherzukommen.

So zeugt das umfangreiche Kubin-Konvolut von der Freundschaft zwischen dem wortgewandten Prediger und dem zurückgezogenen Zeichner. Sie begann 1941 und dauerte bis zum Tod Alfred Kubins im Jahr 1959 an. Besonders fasziniert mich die Offenheit, mit der Otto Mauer sich Alfred Kubins Blättern und dessen "Abgründen und Ängsten der Seele" gestellt hat. Otto Mauer hat keine Kunst geschätzt, die Glaubensinhalte illustriert. Vielmehr hat ihn jene Kunst fasziniert, die keine Antworten gibt, sondern Fragen stellt. So meinte er zu Kubin und dessen rätselhaft unheimlichen Bildwelten: "Kubin hat keine Antwort auf die natürlichste und zugleich widernatürlichste Tatsache des Todes, kein Rezept."

Service

Dom- und Diözesanmuseum Wien

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Franz Schubert/1797 - 1828
Titel: Sonate für Arpeggione und Klavier in a-moll DV 821 / Bearbeitung für Klarinette und Klavier in g-moll
* Allegretto - 3.Satz (00:07:31)
Solist/Solistin: Gervase de Peyer /Klarinette
Solist/Solistin: Gwenneth Pryor /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Chandos 8506

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