Zwischenruf

von Superintendent Hermann Miklas (Graz)

"Das gibt´s doch gar nicht, dass das schon wieder 25 Jahre her ist", sagen die etwas Älteren unter uns. "Der Eiserne Vorhang, die Berliner Mauer, die schikanösen Grenzkontrollen., als ob alles erst gestern gewesen wäre." - Für die Jüngeren hingegen ist es bereits Geschichte - so weit weg wie der Erste oder der Zweite Weltkrieg.

Auf jeden Fall hatte am Morgen des 9. November 1989 noch niemand die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Tages vorausgesehen. Dementsprechend atemlos haben wir am Abend später die Nachrichten verfolgt.

Sicher - die Entwicklung seither hat auch manche Schattenseiten mit sich gebracht -insgesamt aber war es ein ausgesprochen positives Geschehen. Es hat alle notorischen Pessimisten Lügen gestraft, die sagen: "Es wird sowieso alles immer nur schlechter auf der Welt!" Nein, hier ist eindeutig einmal etwas besser geworden!

Ganz anders jenes Ereignis, das sich 51 Jahre davor abgespielt hat, 1938. Ebenfalls an einem 9. November. Ebenfalls in Berlin - aber nicht nur, sondern in allen größeren Städten Deutschlands und Österreichs. Damals hatte Zigtausende ein Blutrausch erfasst. Noch ging es zwar primär um Sachbeschädigung: Jüdische Geschäfte wurden verwüstet, Schaufensterscheiben eingeschlagen, Einrichtungen zertrümmert. Doch es wurden dabei ihre jüdischen Besitzer auch bespuckt, geschlagen und getreten - und es hat tatsächlich in jener Nacht bereits die ersten Toten gegeben. Im weiteren Verlauf sollten es ja bekanntlich noch mehrere Millionen werden.

Wie war das nur möglich? Die Täter waren ja nicht irgendwelche Barbaren aus fernen Ländern, sondern Menschen wie du und ich. Kultivierte Männer und Frauen: Nachbarn, Freunde, Familienväter. In blindem Hass gegen alles, was jüdisch war, haben sie zugeschlagen. Auf Menschen eingedroschen, die ihnen persönlich nie etwas zu Leide getan hatten. Mit denen sie bis wenige Tage davor sogar noch, mehr oder weniger friedlich, Tür an Tür gelebt hatten.

Wir sollten das im Hinterkopf behalten, wenn wir uns heute alterieren über Dschihadisten und IS-Terroristen im Orient. Gerade einmal ein dreiviertel Jahrhundert ist es her, dass sich ein ähnlicher Blutrausch auch auf den Straßen und Plätzen unserer eigenen Heimat abgespielt hat. Im Namen einer Ideologie, die ihren Anhängern die pauschale Lizenz zum Töten erteilt hat gegenüber den Mitgliedern einer anderen Religion.

Totalitäre Weltbilder bestechen zunächst meist durch ihre Logik: Alles scheint zu stimmen, alles scheint zu passen und klingt dabei ganz einfach und klar. Das befriedigt eine tiefe Sehnsucht in uns. Und vermag wohl auch eine enorme Faszination auszuüben! - Demgegenüber erscheint die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit viel komplexer ist, wesentlich weniger reizvoll.

Aber egal welche: Jede Ideologie und jede Religion, die in verblendeter Hybris Hass gegen andere sät, hat ihre Legitimation verwirkt! Feine Seismographen sollten uns sofort spüren lassen: Sobald einmal Hass ins Spiel kommt, kann eine Wahrheit nicht mehr wahr sein! Selbst wenn sie noch so überzeugend klingt: Es gilt, sich so rasch wie möglich aus ihrer Verhaftung zu lösen.

Auch bei uns im Westen nimmt derzeit der Glaube an einfache Schwarz-Weiß-Muster wieder zu. Bei wachsendem Hass gegen Migranten und neuerlichen Anschlägen gegen jüdische Einrichtungen beginnt der Seismograph bereits wieder kräftig auszuschlagen!

Wird sich die Geschichte nun bald wiederholen? - Ich weigere mich trotzdem, widerspruchslos in den Chor der Pessimisten einzustimmen. Noch können wir gegensteuern! Und der 9. November 1989 hat gezeigt: Es gibt auch Befreiung aus verqueren Denkmustern. Mauern zwischen Menschen sind sehr wohl überwindbar. Sowohl die äußeren wie auch die inneren.

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