Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Manuskripte brennen nicht" - Zum 75. Todestag von Michail Bulgakow. Gestaltung: Alexandra Mantler

Jesus Christus wird als Unhold und Spitzbube dargestellt, ausgerechnet er. Dieses Verbrechen ist beispiellos. Diese Notiz findet sich in den Tagebüchern von Michail Bulgakow im Jahr 1925. Sie bezieht sich auf die in Moskau erschienene Zeitschrift "Der Gottlose". Mit Jesus kannte sich Bulgakow gut aus, denn sein Vater war Geistlicher und Dozent für Kirchengeschichte in Kiew, wo Bulgakow 1891 geboren ist. So zeichnet sich der in "Meister und Margarita" eingeschobene Jesus-Roman durch große Nähe zu den Evangelien aus, die schon die re-hebräisierten Namen unterstreichen: Aus Jesus von Nazareth wird Jeschua Ha-Nozri, aus Jerusalem Jerschalajim. Andrerseits gibt es viel Ironie. Da macht sich etwa Jesus über Matthäus lustig, der aufgeschrieben hat, was er gar nicht gesagt hat, also will er ihm das Ziegenpergament entreißen, doch Matthäus läuft davon. Vor allem aber verschiebt Bulgakow den Akzent auf Pontius Pilatus.

In drei Einschüben kommt die Erzählung von Pontius Pilatus und Jeschua in dem Roman vor, während und nach der Kreuzigung. Der erste Teil kommt als Erinnerung von Woland, der Teufelsfigur, gleich im zweiten Kapitel in den Roman, der zweite als Traum des atheistischen Dichters Iwan Besdomny und der dritte Teil wird als Lektüre Margaritas eingeführt. Pilatus ist ein Karrierist und Machtmensch, verbittert und vereinsamt, vor allem aber von rasenden Kopfschmerzen geplagt. Er will Jeschua nicht ausliefern, ist aber zu schwach, um seine Freilassung durchzusetzen. Nach dessen Tod wird Pilatus zu seinem Verehrer und sehnt sich nach einem Gespräch mit ihm.

"Es gibt in der Welt keine bösen Menschen" - das ist der Zentralsatz, den Jeschua Pilatus gesagt hat. Auch angesichts von Folter und Tod wird er daran nicht irre. Dieser Jeschua hat etwas von einem heiligen Narren oder einem Jünger Tolstois, trägt aber auch die Züge der Opfer der Stalin-Diktatur und natürlich die des biblischen Jesus. Er erkennt und benennt die verborgenen Leiden der anderen - zum Beispiel die Kopfschmerzen von Pilatus - und kann sie heilen. Kaum ein Autor ist so kreativ mit der Jesus-Figur umgegangen wie Michail Bulgakow in seinem "Meister und Margarita".

Service

Buch, Michail Bulgakow, "Meister und Margarita", DTV
Buch, Michail Bulgakow, "Das hündische Herz", DTV
Buch, Michail Bulgakow, "Die weiße Garde", Luchterhand Literaturverlag
Buch, Michail Bulgakow, "Gesammelte Werke", Verlag Volk und Welt

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Mily Alexejewitsch Balakirew/1837 - 1910
Album: Russische Klaviermusik
Titel: Im Garten - für Klavier
Solist/Solistin: Margaret Fingerhut /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Chandos 8439

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