Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". "Die Wirklichkeit hat unzählige Formen" - Zum 100. Todestag von Henry James. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Wo fängt es an? Wo hört es auf?"

1886 lässt Robert Louis Stevenson in seiner Schauergeschichte "Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde" Dr. Jekyll nach gefährlichen Experimenten zur Erkenntnis kommen, "dass der Mensch in Wahrheit nicht einer, sondern in Wahrheit zwei ist", ja sogar, wie es prophetisch dann heißt: "Ich sage zwei, weil der Status meiner eigenen Erkenntnis über diesen Punkt nicht hinausgeht. Andere werden folgen, andere werden mich auf demselben Weg überholen, und ich wage die Einschätzung, dass man den Menschen dereinst als reines Gemeinwesen vielfältiger, nicht zusammenpassender und voneinander unabhängiger Bewohner ansehen wird."

Keine fünf Jahre später, 1890, veröffentliche der amerikanische Psychologe und Philosoph William James sein Hauptwerk, in dem er unter anderem eine bahnbrechende Unterscheidung traf: zwischen dem Ich als Subjekt und dem über sich selbst nachdenkenden Ich als Objekt - im Zusammenwirken von beiden entwickelt sich das Selbst. Auch ist das Ich von morgen nicht ident mit dem von gestern.

William James und sein Bruder, der Schriftsteller Henry James, diskutierten diese Erkenntnisse, Henry verarbeitete sie literarisch. Formal fand vor allem der Begriff "Bewusstseinsstrom", den William James prägte, Eingang in die Literatur, um dann Anfang des 20. Jahrhunderts stark weiterzuwirken. Wie das Bewusstsein Sinneseindrücke verarbeitet, das interessierte den Schriftsteller.

Aber auch inhaltlich fand die Auseinandersetzung mit dem Selbst Einzug in die Literatur. Das Gespräch der Amerikanerin Isabel mit der Europäerin Madame Merle aus "Bildnis einer Dame" ist in dieser Hinsicht mittlerweile berühmt. "Es gibt keinen Mann oder eine Frau ganz für sich allein; jeder von uns besteht aus einem Bündel von Zubehör", erklärt Madame Merle darin. "Was sollen wir denn unser ›Selbst‹ nennen? Wo fängt es an? Wo hört es auf? Es fließt in alles, das zu uns gehört - und fließt dann von dort wieder zurück. Ich weiß, dass ein großer Teil von mir in meinen Kleidern steckt, die ich aussuche. Ich habe eine große Achtung vor Dingen. Das eigene Selbst ist - für andere - unser Ausdruck unseres Selbst; und unser Haus, unsere Möbel, unsere Kleidung, die Bücher, die man liest, die Gesellschaft, die man pflegt - diese Dinge sind alle Ausdruck unserer selbst."

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Titel: GFT 160224 Gedanken für den Tag / Brigitte Schwens-Harrant
Länge: 03:49 min

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