Gedanken für den Tag

von Reinhard Haller, Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe. "Wider die Kränkung". Gestaltung: Alexandra Mantler

Der Mensch als kränkendes und gekränktes Wesen

"Man kann nicht nicht kränken und nur schwer nicht gekränkt sein", könnte man in Abwandlung eines berühmten Wortes des aus Österreich stammenden Kommunikationswissenschaftlers und Psychotherapeuten Paul Watzlawick sagen. Und William Shakespeare hat seine rhetorische Frage: "Wer lebt, der nicht gekränkt ist oder kränkt?" selbst ganz eindeutig beantwortet: Niemand. Vor Kränkungen bleibt kein Mensch verschont, keiner kann ihnen entrinnen, jeder wird täglich mit ihnen konfrontiert. Sie erfolgen offen und versteckt, teils mit Absicht, manchmal unbewusst, sind im Leben universell verbreitet und stellen das wahrscheinlich größte zwischenmenschliche Problem dar.

Die Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten lässt sich anhand der beiden Merkmale "kränkend" und kränkbar einteilen. Manche Menschen, die Narzissten, verhalten sich rücksichtslos und entwertend, sind selbst aber extrem empfindlich. Hochsensible Persönlichkeiten, im Zeitalter von Stress und Multitasking ja immer häufiger, sind sehr verletzlich, können sich aber gut in den Mitmenschen hineinfühlen. Wieder anderen fehlt es an beidem, sie spüren die Kränkungsgrenze weder bei sich noch beim Nächsten. Wir nennen sie Psychopathen.

Das Ringen um die eigene Persönlichkeit ist in vielem ein Kampf mit Kränkungen. Mit den großen Umbrüchen des Lebens, vom Geburtsschock bis zur Unfassbarkeit des Todes reichend, sind zwangsläufig Kränkungen verbunden. Niemand kann sich Kränkungen entziehen. Wer aber an ihnen nicht scheitert, geht gestärkt und erfahren daraus hervor. Durch nichts wird die Selbsterkenntnis mehr gefördert als durch Achtung auf seine sensiblen Stellen, auf all das, was mir wichtig ist. Und nichts fördert die Menschenkenntnis mehr als das behutsame Erfühlen der Kränkungsgrenze des Mitmenschen. Wäre das nicht etwas für den heutigen Tag?

Service

Reinhard Haller, "Die Macht der Kränkung", Ecowin Verlag
Reinhard Haller, "Die Narzissmusfalle: Anleitung zur Menschen- und Selbstkenntnis", Ecowin Verlag
Reinhard Haller, "Das ganz normale Böse", Ecowin Verlag
Reinhard Haller, "(Un)glück der Sucht. Wie sie ihre Abhängigkeit besiegen", Ecowin Verlag
Reinhard Haller, "Die Seele des Verbrechers. Motive, Impulse, Lebensbilder", Residenz-Verlag
Reinhard Haller, "Selbstmord. Verzweifeln am Leben?" Hannibal-Verlag


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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Titel: GFT 160412 Gedanken für den Tag / Reinhard Haller
Länge: 03:49 min

Komponist/Komponistin: Johann Sebastian Bach/1685 - 1750
Titel: Suite / Ouvertüre für Orchester Nr.1 in C-Dur BWV 1066
* Courante - 2.Satz (00:02:35)
Ausführende: Musica Antiqua Köln
Leitung: Reinhard Goebel
Länge: 02:00 min
Label: DG 4156712

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