Wenn der Exzess als normal gilt, bleiben die Skandale aus

4. April 2024, 06:57

Warum es problematisch sein kann, wenn Skandale ausbleiben, können wir an der jüngsten Debatte über Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe in der Kulturbranche lernen.

Warum kommen so viele damit durch, dass sie über lange Zeit und öffentlich an Filmsets und in Probeprozessen ihre Macht missbrauchen? Skandale brauchen immer einen Dreischritt: Normüberschreitung - Enthüllung - Entrüstung. Eine Norm wird überschritten, das wird dann öffentlich sichtbar, Menschen empören sich darüber. In diesem Fall werden offensichtlich Normen und Grenzen überschritten, das bleibt auch nicht geheim - aber die Entrüstung darüber blieb lange aus.

Das ist auch skandaltheoretisch erklärbar. Skandalisiert wird ein Verhalten, das dem Image einer Person widerspricht. Ob das der Fall ist, hängt auch von dem Image des Berufs ab, den jemand ausübt. Kurz gesagt: Ein koksender Pfarrer wird eher skandalisiert als ein koksender Rockstar. Wo also Exzess und grenzüberschreitendes Verhalten zum Image gehören, bleibt der Skandal aus. Immer wieder wurden und werden Exzess und Grenzüberschreitungen als Eigenschaften ,echter Genies' beschrieben. Solange so ein Bild wirksam ist, kann es kaum zu einer Skandalisierung von Fehlverhalten kommen.

Wir sehen also auch als eine Gesellschaft, die angesichts von immer mehr Rufzeichen in Foren und auf Titelseiten skandalmüde werden könnte: Es gibt auch ein ,zu wenig' an Skandal. Manchmal braucht es einen gesellschaftlichen Nährboden, um skandalisieren zu können, was skandalös ist. Wir müssen lernen: Gute Kunst kann auch nüchtern entstehen; ohne Geschrei und Demütigung; ohne Grenzüberschreitungen. Unser Künstler:innen-Bild im Kopf muss sich ändern, damit wir aufschreien können, wenn jemand nicht in dieses Bild passt.

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