Gedanken für den Tag
von Hans Schelkshorn, Philosoph. "Denken am 'Rande' Europas" - Philosophie und Theologie in Lateinamerika. Gestaltung: Alexandra Mantler
10. Juni 2014, 06:56
Amerika im Spinnennetz der Projektionen: der "edle Wilde" und die "wilde Bestie"
Durch die Fußballweltmeisterschaft wenden sich die westlichen Medien wieder einmal jener Weltregion zu, die seit Amerigo Vespucci "Amerika" genannt wird. Die Beziehung zwischen Europa und Amerika ist von Anfang an durch eine extreme Asymmetrie bestimmt. Als Kolumbus am 12. Oktober 1492 auf der Insel "Guanahaní" landet, nimmt er das Land sofort in Besitz, er hisst die königliche Flagge und zwei Fahnen mit den Anfangsbuchstaben des spanischen Königspaares, Ferdinand und Isabella. Damit sind die Völker Amerikas noch vor den ersten Begegnungen mit den Europäern bereits dem christlichen Weltreich eingegliedert.
Kolumbus schildert die Bewohner der neu entdeckten Inseln zunächst als Menschen des Paradieses: Sie sind nackt, friedfertig, freigebig und ohne Habgier, da sie noch kein Eigentum kennen. Nach den ersten gewaltsamen Zwischenfällen, in denen auch Spanier zu Tode kommen, schlägt das Bild des "edlen Wilden" plötzlich in das Bild der "wilden Bestie" um. Die Nacktheit wird zur Schamlosigkeit, die Friedfertigkeit wird zur Feigheit, die Unkenntnis des Eigentums zur Neigung zum Diebstahl umgedeutet.
Idealisierung und Dämonisierung werden über Jahrhunderte hinweg den europäischen Blick auf das südliche Amerika prägen. Da sowohl der "edle Wilde" als auch die "wilde Bestie" als "Menschen ohne Kultur" betrachtet werden, gilt Amerika für Europäer weithin als weißer Fleck in der Kulturgeschichte der Menschheit. Nach Hegel ist das südliche Amerika bloß ein "Widerhall der Alten Welt".
Erst in den 1970er Jahren hat das lateinamerikanische Denken, einerseits durch die Literatur, andererseits durch die Theologien und Philosophien der Befreiung, die gläserne Wand der europäischen Zivilisation durchbrochen. Seitdem öffnet sich langsam der Blick auf den Reichtum und die Vielfalt geistiger Aufbrüche, in der seit Jahrhunderten die indigenen Völker, die Mestizen und die Kreolen gleichsam "am Rande Europas" ihre Stimme erheben.
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Sendereihe
Playlist
Komponist/Komponistin: Jacques Loussier/geb.1934
Titel: Konzert für Violine und Schlagzeug
* Buenos Aires, Tango - 3.Satz (00:04:50)
Solist/Solistin: Jean Pierre Wallez /Violine
Solist/Solistin: Andre Arpino /Schlagzeug
Länge: 02:00 min
Label: DECCA 4367982