Leporello
Anblicke und Einsichten: Vladimir Vertllib über die russische Seele
20. März 2015, 07:52
Der Schriftsteller Vladimir Vertlib lebt in einer Nische zwischen den Welten. 1966 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, in Russland, geboren, emigrierte er als Kind mit seinen jüdischstämmigen Eltern nach Israel, dann nach Italien, in die Niederlande und die USA; seit 1981 lebt Vertlib in Österreich. Nach den frühen Jahren als Emigrant, so der mehrfach preisgekrönte Schriftsteller, habe er sich nun in einem Raum eingerichtet, in dem die Spuren sämtlicher Kulturen seines Lebens ihren Platz gefunden haben.
Den Spuren seiner frühesten Kindheit in Russland, die sich mit den Eindrücken in der neuen Heimat Österreich vermischt haben, widmet Vladimir Vertlib sein jüngstes Buch. "Lucia Binar und die russische Seele" lautet der Titel des Werks, das soeben im Deuticke Verlag erschienen ist.
Die russische Seele existiert nur im Kopf, als Klischee, so Vladimir Vertlib. Die grundlegenden Sehnsüchte der Menschheit nach Freiheit und Würde, für die sie steht, existieren indes sehr real. Von seinem Blickwinkel der Nische aus vergleicht Vladimir Vertlib das Leben in seiner nunmehrigen Heimat Österreich mit dem Alltag in seinem Herkunftsland Russland. Und er beschreibt Abgründe in beiden Ländern: Da sind die Tendenzen des Neoliberalismus hierzulande, das Treiben von Immobilienspekulanten, der Geiz und die Gier in Österreich, wo in der Großen Mohrengasse in Wien Lucia Binar lebt, die vom Wohnungseigentümer, einem Spekulanten, mittels Lärmattacken drangsaliert wird und einsam den Tod ihrer letzten Freundin betrauert.
Die meisten der Verwandten Vladimir Vertlibs sind längst aus Russland emigriert, doch immer wieder besucht der Schriftsteller noch Bekannte in seiner früheren Heimat. Die Lebensumstände dort sind ungleich schwieriger, die Abgründe tiefer, das Gift, das die Bevölkerung zerstört, ist blanker gegenseitiger Hass, der durch den Ukrainekonflkt ausgebrochen ist, erzählt der Autor.
Vladimir Vertlibs Interesse gilt hier wie dort, in Österreich wie in Russland, dem streitbaren Geist, der Widerstand in der jeweiligen Gesellschaft leistet und Haltung bewahrt, wo andere sich verbiegen lassen. Die alte Dame Lucia Binder in Vertlibs Buch meistert ihr Schicksal, indem sie Verbündete sucht und sich nicht zurückzieht und aufgibt. Auf der anderen Seite, in Russland, ist es indes, so Vertlib, eine ganze Gesellschaft, die aufgerufen ist, sich zu wehren. Vertlibs Hoffnung ruht auf den Intellektuellen, den Künstlern und Sängern, die in der Tradition der alten Barden Widerstand gegen diktatorische Tendenzen mit den Mitteln der Poesie leisten
Es sind zB Sänger wie Andrej Makarewitsch, ein Künstler in Russland, den Vertlib verehrt und der sich immer wieder mit seiner Lyrik zu Wort meldet, Demokratie einfordert und korrupte Oligarchen anprangert. Und auch andere Aktivisten zählt Vertlib zu den Hoffnungsträgern. Sie alle führen ein Leben in einer Nische wie er, sagt der Schriftsteller, und er wünscht sich, dass diese Nische größer wird.
Die Sehnsucht seiner Familie nach Freiheit und Demokratie hat einst dazu geführt, dass Vladimir Vertlibs Kindheit und Jugend rast- und ruhelos war. Doch das Ergebnis der jahrzehntelangen Wanderschaft ist nun zugleich auch der größte Schatz des Schriftstellers: nämlich seine Sprache. Mit ihr verschafft Vladimir Vertlib seiner "russischen Seele" Raum, auch wenn es nur eine Nische in seinem Selbstbild ist.- Gestaltung: Christa Eder
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