Der Virtuose des Grauens

Besuch um Mitternacht

Angeblich zehn Jahre hatte Edgar Allan Poe an dieser klangvollen Komposition gearbeitet - und noch heute beschäftigt sie die Fantasie der Nachgeborenen. Ein Gedicht, das dem vielleicht bedeutendsten Vogel unserer Geschichte ein Denkmal setzt: "Der Rabe".

Der Amerikanist Walter Grünzweig, die Komponistin Olga Neuwirth, die Prinzipalin des Wiener Kabinetttheaters, Julia Reichert, und der Schriftsteller Ilija Trojanow sprechen über das berühmteste Gedicht der englischsprachigen Literatur.

Am 29. Jänner 1845 erschien "The Raven" erstmals im New Yorker "Evening Mirror" und machte den Verfasser über Nacht berühmt und zum Mittelpunkt der literarischen Salons und Soireen. Das "long poem" über einen Protagonisten, der sich in düsteren Träumen nach seiner verstorbenen Geliebten sehnt, vereint alle Motive, die für Poes Schaffen typisch sind: der Tod einer schönen jungen Frau; der einsam trauernde Liebende; die masochistische Sucht nach Affirmation seines Leids und die quälende Ungewissheit, ob es ein Leben und vielleicht ein Wiedersehen nach dem Tod gibt.

Der Rabe, der um Mitternacht an das Fenster des Protagonisten klopft, beantwortet die zuerst belustigten, dann immer verzweifelteren Fragen mit "Nevermore" - "Nimmermehr".

Ghastly grim and ancient Raven
wandering from the Nightly shore -
Tell me what thy lordly name is on the
night's Plutonian shore!"
Quoth the Raven, "Nevermore."

Grauslich grimmer alter Rabe
Wanderer aus nächtger Sphär' –
sag, welch hohen Namen gab man
dir in Plutos nächtger Sphär'?
Sprach der Rabe, "Nimmermehr"

"Ein unheimliches Bild"

Olga Neuwirth meint dazu: "Interessant ist, dass sich der Rabe, der um Mitternacht ins Zimmer kommt, auf den Kopf von Pallas Athene setzt. Im Grunde ruft sich der Erzähler den Raben ja selbst, denn dieser Rabe ist in seinem Kopf. Die griechische Göttin Pallas Athene ist ihrerseits aus dem Kopf des Zeus entsprungen. Das heißt, dass der Rabe aus dem Kopf des Erzählers entsprungen ist. Und der Geist, den er sich da gerufen hat, bleibt ihm zum Ende des Gedichts erhalten, den wird er nie wieder los."

"Die Büste der Pallas steht für Wissenschaft und Kunst, der Rabe für Geschwätzigkeit, aber auch für Weisheit", meint hingegen Julia Reichert. "Es ist ein ganz unheimliches Bild, wie die übereinander sitzen."

Ureigenste Ängste

Dem entgegnet Ilija Trojanow: "Der junge Mann weiß sofort, dass dieser Rabe kein gewöhnlicher Vogel ist, der sich da zufällig zu ihm verirrt hat. Poe knüpft an die Tradition des gothic, also des Schreckens an. Er ist ganz nahe an den Volksmärchen, den ureigensten Ängsten, die sich schon bei Kindern äußern, in ganz bestimmten dämonischen Figuren, die einen bedrohen. Poe macht das in einer Direktheit spürbar, die seinen unbedingten und sehr avancierten Formwillen Lügen straft."

"Wir haben in diesem Gedicht die Situation, dass dramatisch dargestellt wird, wie im Grunde nix rauskommt", maint Walter Grünzweig. "Man kann den Raben befragen, was immer man will, es strahlt zurück. Der Rabe steht dafür, dass die romantische Symbolik an ihrem Ende angekommen ist, außer im Effekt. Poe kalkuliert ganz stark mit dem phonetischen Effekt, den dieses schwarze Tier, das 'Nevermore' sagt, was sich natürlich auf 'Lenore', den Namen der verstorbenen Geliebten reimen muss, ausstrahlt."

Bilder und Metaphern

"Poe hat diese unglaublich starke Musikalität, die Sprache ist ein Rap, sie drängt vorwärts, schraubt sich hinauf und konstruiert Wolkengebilde von Bildern und Metaphern", so Ilija Trojanow. Und Olga Neuwirth ergänzt: "Dieses Gedicht ist motivisch, thematisch, rhythmisch-metrisch und klangfarblich so präzise gearbeitet, dass es eine Komposition in Sprache ist. Bis in die kleinsten Verästelungen spielt Poe mit der Klangfarbe der Sprache. Und immer wieder dieses 'O' das im Refrain 'Nevermore' auftaucht, diese ewige Wiederholung, die alle möglichen Emotionen im Erzähler auslöst, bis zur endgültigen Verzweiflung."

"Interessant ist auch der Aspekt, dass der junge Mann natürlich wissen muss, dass die Antworten auf seine Fragen immer negativ sind", ergänzt Walter Grünzweig. "Ist meine Geliebte Lenore bei den Engeln? Nevermore. Werd ich sie jemals wieder sehen? Niemals. Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod? Nimmermehr. Das heißt, dass der Trost, den der Sprecher hier sucht, offenbar in der Lust am Leid zu finden ist, und das löst eine ästhetische Empfindung aus, die höchst radikal ist."

"Ein unendliches Schwarz"

Julia Reichert hingegen meint: "Es hat schon auch eine Komik für mich, wenn alle Fragen immer dieselbe ultimative Antwort provozieren. Deshalb zuckt der Erzähler am Ende des Gedichts ja auch aus. Er will den Raben endlich loswerden, aber der sagt erst recht wieder 'Nevermore' und bleibt auf der Büste sitzen. Am Schluss ist alles im Dunkeln, in diesem Schatten. Es ist eigentlich kein Vogel mehr da, keine Büste mehr da, das Zimmer ist definiert zum Schatten des Raben, in den der Schatten dieses Mannes (und wahrscheinlich der Lenores dazu) eingehen, in ein infinito nero, ein unendliches Schwarz, aus dem es kein Entrinnen gibt, geworden."