Die neue intellektuelle Stimme aus China

Xiaolu Guo

Bei den Filmfestspielen in Locarno war sie im Vorjahr die große Gewinnerin. Da wurde die aus China stammende 37-jährige Schriftstellerin und Regisseurin Xiaolu Guo für ihren Film "She, a Chinese" mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet.

Mit der 37-jährigen chinesischen Schriftstellerin und Regisseurin Xiaolu Guo meldet sich aus dem Reich der Mitte eine neue Stimme, die einen ungeschönten Blick auf das Leben im modernen China wirft. Für ihren zweiten Spielfilm "She, a Chinese" gewann sie im Vorjahr auf dem 62. Internationalen Filmfestival in Locarno den Goldenen Leoparden.

Während der Entstehung dieses Films drehte die selbstbewusste Filmemacherin außerdem den 75-minütigen Dokumentarfilm "Once Upon A Time Proletarian", der bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig im September seine Weltpremiere feierte.

Zwischen Literatur und Film

Ebenfalls im Vorjahr erschien Guos aktueller Roman auf Deutsch. "Ein Ufo, dachte sie". In dieser bitterbösen Geschichte aus dem China des Jahres 2012 lässt Guo mit hintergründigen Witz und literarischem Scharfsinn ein Ufo mit der chinesischen Obrigkeit kollidieren. Auch diese surreale Geschichte, die ihr bereits bei den Filmfestspielen in Cannes einen Drehbuchpreis eingebracht hat, wird auf die Leinwand gebracht. Produziert wird das Spielfilmprojekt "Ufo In Her Eyes" von Fatih Akin und Klaus Maeck ("Gegen die Wand", "Auf der anderen Seite") mit ihrer Hamburger Produktionsfirma Corazón International.

Fehlende Bezugspunkte
"Es ist mir wichtig, das Leben junger Menschen und die politische Situation im heutigen China aufzuzeigen", sagt die selbstbewusste Filmemacherin, die als 18-Jährige ihr Handwerk an der renommierten Pekinger Filmakademie lernte und 2002 an die nationale Filmschule in London übersiedelte.

"In China wissen die Menschen derzeit nicht genau, wohin die Reise geht, denn es hat sich weder der Kapitalismus durchgesetzt noch sind wir Sozialisten, sondern etwas sehr Einzigartiges", meint Guo. In dieser Gesellschaft fehlen, wie sie fortfährt, vielen jungen Menschen reale Bezugspunkte, sie driften in eine virtuelle Internet-Generation ab. "Gerade in dieser Zeit des Umbruchs in der wir in eine ungewisse Zukunft steuern, ist es wichtig, einen eigenen Willen zu besitzen."

Produktive Künstlerin
Die vor Energie geradezu übersprudelnde Guo, die 1973 in einer kleinen Stadt am chinesischen Meer geboren wurde, hat sich sowohl in China als auch in ihrer Wahlheimat London schnell als Romanautorin und Regisseurin durchgesetzt. Auf ihr Konto gehen mehrere Romanveröffentlichungen, darunter "Stadt der Steine" und "Kleines Wörterbuch für Liebende", mit dem ihr 2008 ihr internationaler Durchbruch gelungen ist.

Ihr preisgekröntes Spielfilmdebüt "How Is Your Fish Today?" hat sie 2007 auf verschiedenen internationalen Festivals vorgestellt. Bei dieser Gelegenheit lernte sie den britischen Cutter Andrew Bird kennen, der auf Robert Redfords renommierten Sundance Film Festival Akins kraftvolles Spielfilmdrama "Gegen die Wand" vorstellte.

"Der Rhythmus dieses Films hat mich so sehr begeistert, dass ich unbedingt meinen nächsten Film mit ihm schneiden wollte", so Guo. Guo engagierte auf Anhieb den Cutter, durch den sie 2008 für mehrere Monate nach Hamburg kam.

Persönliche Erfahrungen
Über Bird lernte sie die beiden Corazón-Produzenten Maeck und Akin kennen, die auch bei der Musik für "She, a Chinese" beraten haben. Für den Soundtrack zu diesem Spielfilmdrama, das eine junge Frau auf ihrer Odyssee vom Osten in den Westen begleitet, wurde der bekannte britische Gitarrist und Musiker John Parish gewonnen. "Die Musik unterstreicht die Stimmung der Figur, die Kapitel markieren den Rhythmus", erläutert Guo.

"Dies ist ein sehr persönlicher Film, denn ich habe 30 Jahre lang in China gelebt und bin vor fünf Jahren in den Weste gekommen. Diese Erfahrung habe ich auch in meinem Roman 'Kleines Wörterbuch für Liebende' beschrieben, in dem es darum geht, wie Chinesen den Westen wahrnehmen, mit welche politischen und kulturellen Probleme sie sich auseinandersetzen müssen und wie stark sie sich als Individuum in die westliche Gesellschaft integrieren können."

Der Hunger nach Leben
Da viele Chinesen im letzten Jahrhundert unter Hunger gelitten hätten, bestehe bei den Bauern immer noch die Angst, am nächsten Tag kein Essen mehr zu bekommen. "Das ist eine kollektive Angst", sagt Guo. "Selbst wenn die Menschen nicht hungrig sind, möchten sie ständig essen, um dem Hunger vorzubeugen." Andererseits verspüre die junge chinesische Generation großen Appetit nach modernen Dingen wie Freiheit und Liebe. "Das ist der auch Hunger, den meine Hauptfigur im Film verspürt."