Die Erinnerungen der Xiaolu Guo

Stadt der Steine

Irgendwo an der felsigen Küste des Ostchinesischen Meers liegt jenes Städtchen, das die junge Autorin Xiaolu Guo "Stadt der Steine" nennt. Und das nicht nur deshalb, weil es durch den ständigen Angriff der Winde und der Wellen auf nacktem Fels steht.

Die Stadt der Steine gibt es wirklich. Xiaolu Guo hat ihre Heimatstadt Shi Tang in ihrem Roman "Stadt der Steine" nicht nur porträtiert, sie hat ihr den Roman auch gewidmet, genau diesem Städtchen, dessen provinziellem Mief sie mit 17 Jahren entflohen ist, um in Beijing das Handwerk des Filmemachens zu erlernen.

Reise in die Erinnerung

Weit weg hat sie alle Erinnerungen an die karge Stadt und die Engstirnigkeit ihrer Bewohner geschoben. Erst 2002, als sie ein Stipendium des British Council erhielt, kam ihr Shi Tang wieder in den Sinn: Sie wurde nämlich nicht in der Hauptstadt London untergebracht, wie sie gehofft hatte, sondern in einem kleinen Dorf auf dem Land. So war sie wieder mit "älteren Mittelschichtmenschen" konfrontiert, eben solchen, die sie gehofft hatte, hinter sich gelassen zu haben.

Vielleicht war dieses Erlebnis der Grundanstoß zur Reise in die Erinnerung, die sie "Stadt der Steine" genannt hat, übrigens ihrem fünten Roman, aber dem ersten, der im westlichen Ausland erschienen ist. Dass er solchen Anklang findet, hat möglicherweise mit dem "klassischen" Beginn zu tun: Ein Geschmack aus der Kindheit lässt die Erinnerungen lebendig werden. Bei Marcel Proust gibt ein Kaffeegebäck mit dem Namen "Madeleine" den Startschuss zur "Suche nach der verlorenen Zeit", Xiaolu Guo braucht dazu einen riesigen eingesalzenen Aal. Der bringt zunächst den Namen der Stadt an die Oberfläche der Erinnerungen.

Kleine Festungen

Die Stadt der Steine heißt aus verschiedensten Gründen so: Einmal, weil sie am Abhang eines steilen Berges liegt und durch die Gewalten der Natur kaum mehr Erde in der Stadt ist - weggeschwemmt von heftigen Wolkenbrüchen, weggespült von den Meereswogen, die die regelmäßig wütenden Taifune zwischen die Häuser drückt -, aber auch, weil die zwei- bis dreistöckigen Häuser zur Gänze aus Stein gebaut sind, und zwar in einer speziellen Technik: mindestens zwei und höchsten vier Steinmauern werden so aneinander gefügt, dass sie auf Uneingeweihte wie eine massive Mauer wirken. So können diese Steinhäuser wie kleine Festungen den Wassern und den Stürmen trotzen.

Das optische Bild der Versteinerung wird durch die mit Steinen beschwerten Dächer - wobei im Lauf der Zeit die Wahrscheinlichkeit stieg, dass das Dach unter dem Gewicht der Steine zusammenbrach - und durch die mit flachen Steinen belegten Straßen verstärkt. Außerdem zeigen die Bewohner keinen Hang zur Individualität: Hausschmuck ist unnötig, und Blumen gehören ihrer Ansicht nach in den Hof. Wobei auch da laut Xiaolu Guo festgelegt ist, dass die Narzissen in Nautilus-Schalen zu wachsen haben, und dass in die nicht mehr in Verwendung stehenden alten Nachttöpfe weiße Gardenien gepflanzt werden.

Versteinerte Gebräuche

Im Roman gibt es noch einen dritten Grund, das Fischernest "Stadt der Steine" zu nennen: die festgefahrenen Riten und Gebräuche der Einwohner, Schutzmaßnahmen gegen das Wüten der Natur und für Außenstehende völlig unverständlich. Das muss die kleine Braut erfahren, die aus den Bergen in die Stadt kommt und unwissend alle ungeschriebenen Vorschriften bricht: den Fisch auf ihrem Teller umdreht, die Augen des Fisches isst und einen Vorübergehenden unabsichtlich mit Wasser überschüttet.

All das lässt die Empörung der Fischer kochen, denn auf diese Weise wird Unglück über Schiff und Besatzung beschworen - gemäß dem Spruch "Den Meeressammler und den Meeresdämon trennen nur sieben Zentimeter Holzplanke". Solche Verfehlungen sind nur durch beträchtliche Geldmittel wieder gut zu machen, denn die Macht von Münzen war schon damals, als das Mädchen vor 80 Jahren in die Stadt der Steine kam, größer als die Macht der Gebete an die zuständigen Meeresgottheiten.

Wo die Stadt der Steine zu finden ist? An der Küste des Ostchinesischen Meeres in der Provinz Zhejiang, cirka 250 Kilometer Luftlinie südlich von Shanghai an der Spitze der Halbinsel Songmen.

Service

Xiaolu Guo, "Stadt der Steine", Verlag Knaus

Xiaolu Guo
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