Porträt des Regie-Kollektivs

Die Produktionsfirma Koktebel

Bei Crossing Europe wird heuer ein Schwerpunkt auf zeitgenössisches russisches Filmschaffen gelegt. Ein "Tribute" widmet das Festival dem Kollektiv Koktebel, deren Spielfilme in den letzten Jahre auf internationalen Festivals für Aufsehen gesorgt haben.

Kulturjournal, 22.04.2010

Koktebel ist eine kleine Küstenstadt an der Südostseite der Halbinsel Krim. Umgeben von Badestränden und Gebirgszügen, blickt dieser Ort auf eine hundertjährige Tradition als Künstlerkolonie zurück - und ist auch Namensgeber eines russischen Filmkollektivs.

"Vielleicht weil es so ein träumerisches Wort ist und nur sehr wenige Menschen wissen, was es bedeutet. Eigentlich bezeichnet es die blauen Berge der Krim in der tatarischen Sprache. Die Küstenstadt Koktebel war außerdem eine Art Mekka für die Dichter des sogenannten Silbernen Zeitalters der russischen Poesie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, viele Schriftsteller und Maler sind dorthin gekommen", sagt der russische Regisseur Alexei Popogrebsky, einer der Gründer der Koktebel Produktionsfirma.

Menschen und Landschaften

Insgesamt sieben Spielfilme hat das Kollektiv in den letzten Jahren realisiert - Dialog-arme, höchst bildintensive Filme, die Menschen und Landschaften reflektieren, das Wechselspiel von Bewegung und Ruhe, Bodenhaftung und neuer Zielsuche. In den schier endlosen Weiten der russischen Provinz, in der Leere mit Lakonie und Hoffnungslosigkeit mit Pragmatismus kompensiert werden, und die Kamera in den flachen Ebenen nach verlorenen Träumen sucht.

"Kern jeder Geschichte der Koktebel-Filme ist die Aufmerksamkeit für menschliche Details", so Popogrebsky. "Für mich sind etwa Kostüme oder Innenausstattung äußerst wichtig, weil sie sehr viel über die Psychologie der Menschen aussagen. Wie ein humoristisches Sprichwort besagt: Kino beginnt dort, wo der Text endet."

Urbaner Alltag

Ohne Worte spüren die Filme des Koktebel-Kollektivs jenem Unbehagen nach, das unter den Ruinen des Sozialismus und den Neubauten des Kapitalismus brodelt.

"In Russland haben die meisten Menschen ihre Fähigkeit oder Sehnsucht, eigenständig zu denken, verloren. Denn während des sowjetischen Regimes war Eigenständigkeit niemandem erlaubt. Es gab nur eine Art von Schuhen, nur eine Art von Kino und das war's. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergehen muss, bis die Menschen wieder beginnen autonom zu denken. Das andere Problem allerdings ist, dass die Leute durch den Kapitalismus so gelangweilt sind und völlig abstumpfen", sagt Nikolay Khomeriki, ebenfalls Teil des Koktebel-Kollektivs. Sein Film "Tale in the Darkness" verfolgt das Leben einer Polizistin, die vernachlässigte Kinder aus verwahrlosten Familien abholt und sich mit spröder Leichtigkeit durch einen unterkühlten urbanen Alltag schlägt.

"Woody Allen macht sich immer lustig darüber, dass sämtliche Kunst-Regisseure ständig nur Filme über das menschliche Leiden machen", so Khomeriki. "Abgesehen davon, dass er selbst zu diesen zählt, stimmt das auch für die Koktebel-Regisseure. Unsere Filme beschäftigen sich alle mit seelischen Schmerzen."

Trotz Armut und Perspektivenlosigkeit im Russland der kleinen Leute wohnt den Filmen des Koktebel-Kollektivs eine Leichtigkeit inne, die, gepaart mit psychologischem Scharfblick, die Untiefen der Seele auslotet, wenn Alexei Popogrebsky etwa in seinem jüngsten Film "How I ended this summer" die Psychogeografie zweier Meteorologen auf einer heruntergekommenen Wetterstation am Rand des Polarkreises porträtiert.

Keine Vergleiche bitte!

Gerade im Ausland werden die Filme des Koktebel-Kollektivs immer wieder gerne als Verneigung vor dem großen russischen Regisseur Andrej Tarkowski gesehen. Eine Lesart, die Alexei Popogrebsky nicht gerade begeistert: "Das ist ein Klischee. Sobald ein westliches Publikum einen russischen Film sieht, in dem eine Weißblende vorkommt, die länger als 15 Sekunden dauert, sagen sie sofort: Tarkowskij. Dabei gibt es so viele andere wichtige Regisseure in Russland."

Alle sieben Koktebel-Spielfilme sind im Rahmen des Filmfestivals Crossing Europe derzeit in Linz zu sehen. Mit einer eigensinnigen Mischung aus Wortkargheit, surrealem Humor und meditativer Monotonie wehren sich diese Werke vehement gegen filmtheoretische Klischees.

Service

Filmfestival Crossing Europe, bis 25. April 2010, mehrere Kinos in Linz,
Ö1 Club-Mitglieder bekommen ermäßigten Eintritt (zehn Prozent).

Crossing Europe