Krimi-Autor Massimo Carlotto über sein Leben

Der Flüchtling

Im Caffé degli Spiriti in Cagliari, der Hauptstadt Sardiniens, wird ein Cocktail mit dem Namen "Alligator" ausgeschenkt. Der Cocktail ist eine Hommage an den "Alligator" genannten Ermittler in den Kriminalromanen von Massimo Carlotto. Carlotto ist ein sehr erfolgreicher italienischer Schriftsteller.

Bis vor kurzem lebte Carlotto auf Sardinien in Cagliari, weil diese Stadt der für ihn beste Platz zum Schreiben war. Jetzt ist er wieder nach Padua gezogen, in jene Stadt, in der seine eigene Kriminalgeschichte ihren Ausgang nahm. Eine Kriminalgeschichte und eine jahrelange Verfolgung durch die Justiz, die Massimo Carlotto zum Flüchtling und Häftling machte. "Der Flüchtling" lautet der Titel des Romans, in dem er seinen Fall schildert und sein Leben im Untergrund und auf verschiedenen Kontinenten.

"Der Flüchtling" ist italienische Zeitgeschichte - immerhin wird "der Fall Carlotto" immer wieder als Beispiel für fatal verschlungene Wege des Justizsystems und für die Irrtümer der Justiz herangezogen.

Schuldlos im Gefängnis

Im Jahr 1976 wird Margherita Magello in Padua mit 59 Messerstichen ermordet. Massimo Carlotto findet die Leiche der 25-jährigen Studentin und geht zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Er wird festgenommen, angeklagt und freigesprochen. Der Fall geht in die Berufung, und nun folgt eine Verurteilung und die Verhängung einer Haftstrafe im Ausmaß von 18 Jahren. Um der Strafe zu entgehen, flieht der Verurteilte aus Italien.

Soweit die Tatsachen und soweit auch die Grundlage für den Roman "Der Flüchtling". Der Flüchtling ist Massimo Carlottos Erstling. Nachdem er seine eigene Geschichte im Roman verarbeitet hatte, wandte er sich dem Kriminalroman zu, inzwischen nähert er sich seiner 20. Buchveröffentlichung.

Jahre auf der Flucht

Am Beginn seiner eigenen Kriminalgeschichte ist Massimo Carlotto 19 Jahre alt. 17 Jahre lang wird der Mord in Padua sein Leben bestimmen. Abgeschlossen wird der "Fall Carlotto" von Seiten der Behörden am 7. April 1993, als Massimo Carlotto durch den italienischen Staatspräsidenten die Begnadigung erhält.

Dazwischen liegen Jahre, die Massimo Carlotto zum Teil im Gefängnis verbrachte, und zum Teil auf der Flucht. Von diesen Jahren auf der Flucht erstattet der Schriftsteller in seinem Roman Bericht. Er erzählt, wie er sich unkenntlich machte, wie er sich mästete, wie er lernte, möglichst anders auszusehen und gleichzeitig so unauffällig wie nur möglich. Er erzählt von Angstanfällen und wie er diesen zu Leibe rückte. Er erzählt vom Alleinsein, von vielen Wohnungen und von endlosen politischen Debatten.

Seine Flucht ist für ihn die klare Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Gerechtigkeit und Willkür. Die über ihn verhängte Strafe will er nicht annehmen. Der Versuch, aus dem Gefängnis heraus auf ihre Verkürzung hinzuarbeiten, wäre Massimo Carlotto als die Legitimation eines Fehlurteils erschienen.

Selbstgespräche als Rettung

Acht Monate verbrachte Massimo Carlotto in der Isolierzelle. Gegen die sinnlose Grausamkeit, die er dort empfand, kämpfte er an, indem er sich selbst - als sein eigener Anwalt - in stundenlangen Ansprachen den eigenen Fall bis zur physischen Erschöpfung vortrug. Eine Rettung mittels Sprache.

Carlottos autobiografische Aufzeichnungen sind in der Romanbearbeitung ein Dokument der Bewältigung einer unerträglichen Lebenssituation. Bestürzung, Anspannung und Angst bestimmen den Alltag des Flüchtlings. Er lebt zuerst in Paris, dann in Mexiko City. Dort wird er erkannt und nach Italien gebracht. Wieder kommt er vor Gericht.

Packend und gänzlich unsentimental schildert Massimo Carlotto die Jahre der Flucht, die Hoffnung auf Freispruch und die endgültige Begnadigung. Auf diese Weise wird er zum Helden in seinem eigenen Lebens-Roman. Er kämpft - und rettet immer wieder aufs Neue seine psychische Integrität. Gleich in den ersten Tagen der Flucht schloss der Flüchtling einen Pakt mit sich selbst: "Egal wie, aber du hältst durch."

Absurde Realität

Erlebnisse auf der Flucht zeigen die Absurdität der Realität. Auf einer Busfahrt durch den mexikanischen Bundesstaat Oaxaca erlebt der Flüchtling eine Personenkontrolle. Der von der italienischen Exekutive Gesuchte erregt die Aufmerksamkeit der mexikanischen Polizisten nicht, wohl aber zwölf US-Amerikaner, die ebenfalls im Bus unterwegs sind. Die Männer sind barfuß und in weiße Leinenkutten mit goldfarbenen Kordeln gehüllt. Auf dem Kopf tragen sie Dornenkronen aus Plastik. Bei der Ausweiskontrolle meinen sie, keine Ausweise nötig zu haben, da sie die zwölf Apostel wären. Die Männer werden verhaftet.

Der Flüchtling ist ständig auf der Hut. Jeder könnte ihn verraten. Als er in Mexiko City auf eine junge Japanerin trifft, zögert er eine Beziehung mit ihr einzugehen. Ihm wird erst klar, dass er von Kioko nichts zu befürchten hat, als sie ihn auf ein Lenin-Poster deutend fragt, wer denn da dargestellt sei. Der Flüchtling antwortet: "Ein italienischer Stummfilmstar."

"Guter Onkel" Stalin

Aufgewachsen ist Massimo Carlotto in Padua, in einem politisch aufgeladenen Umfeld. Im Roman "Der Flüchtling" gilt Josef Stalin dem jungen Carlotto als eine Art "guter Onkel", der viel für das internationale Proletariat getan hätte. Geprägt wurde dieses Bild durch die Erzählungen ehemaliger italienischer Partisanen, die einige Zeit in Osteuropa im Exil verbracht hatten.

Sich selbst weist der Autor jedoch nicht als Exilanten aus, obwohl die Politik in seiner Biografie sehr wichtig ist. Doch das Politisieren als art pour l'art liegt Carlotto nicht. Sein Stil im Leben wie im Schreiben ist knapp und klar.

Befreiung aus den Mühlen der Justiz

Auf seiner Flucht findet der Flüchtling sowohl in Paris als auch in Mexiko immer wieder Freunde, mit denen er aufgrund des ständigen Wechsels der Lebensbedingungen jedoch immer nur kurze Zeit verbringen kann. Die vignettenhaften Schilderungen der Lebenswege dieser Exilanten gehören zu den besonders starken Szenen des Buchs. Verknappt und verdichtet entwerfen sie ein Bild einer internationalen Schicht von Menschen, die ihren Herkunftsstaaten aus politischen Gründen den Rücken kehren mussten. Viele dieser Biografien haben ihre Wurzeln in den Kämpfen im Italien der 1970er Jahre - in den extremen politischen Gegensätzen, den unklaren Strukturen und den verschlungenen Pfaden des Protests.

"Der Flüchtling" ist kein Tagebuch und kein Bericht, sondern eine selbst gestaltete Lebensgeschichte unter vorgegebenen Vorzeichen, die konsequent ihrem Höhepunkt zusteuert: der Befreiung aus den Mühlen der Justiz. Der Autor Massimo Carlotto jedenfalls hat mit dem Roman seine eigene Biografie in einen sinnvollen Kontext gestellt - jenen der Rehabilitation und der Durchsetzung der Wahrheit.

Service

Massimo Carlotto, "Der Flüchtling", Tropen Verlag

Tropen Verlag