Aus der Sicht des Opfers und des Täters

Die dunkle Unermesslichkeit des Todes

Äußerst spannend inszeniert Autor Massimo Carlotto die Geschichte zweier Menschen, jene des Täters und jene des Opfers, dem durch einen Überfall alles genommen wurde. Nun soll Raffaele Beggiato nach fünfzehn Jahren begnadigt werden.

Raffaele Beggiato steht vor Gericht. Mit geplatzter Lippe, geschwollenen Augen und gebrochener Nase vernimmt er die Worte des Richters. Raffaele wird angeklagt wegen schweren Raubs, Entführung und Doppelmord an einem achtjährigen Kind und seiner Mutter. Der Richter beantragt lebenslänglich. Raffaele, unsanft in Polizeigewahrsam gebracht, vernimmt es schweigend. Er weiß: Reden ist nutzlos.

Silvano Contin kommt abends von der Arbeit nachhause. Wie immer schaut er im Briefkasten nach. Er weiß, es können nur Rechnungen oder Werbung sein. Seit Jahren schreibt ihm niemand mehr. An diesem Tag aber erhält er einen Brief. Silvano betritt seine Wohnung, stellt das Essen in die Mikrowelle, macht den Fernseher an und öffnet den Umschlag. Er enthält zwei Briefe: den eines Anwalts und den von dessen Mandant.

"Mir ist klar, dass ich Sie um das Mitleid für den Mann bitte, der Ihnen das Liebste genommen hat", schreibt letzterer. Es ist Raffaele Beggiato, der fünfzehn Jahre nach seiner Verurteilung Silvano Contin, den Ehemann bzw. Vater der Ermordeten, um Zustimmung zu seiner vorzeitigen Begnadigung bittet. So beginnt Massimo Carlottos Roman "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes" - die konsequent aus einer Parallelperspektive geschriebene Geschichte eines Täters, der ein Opfer, und eines Opfers, das ein Täter wird.

Hier stehen sich die zwei Personen gegenüber, das Opfer und der Täter. Das Opfer, das dann zum Mörder wird, habe ich entworfen auf der Basis von langen Interviews, die ich mit sehr vielen solcher Silvano Contins geführt habe. Es waren Fälle, wo eine Familie jemanden durch ein Verbrechen verloren hat, die Mörder schuldig gesprochen wurden - und später ein Gnadengesuch eingereicht haben. Und die Familien dies abgelehnt haben.

Silvano Contin aber wird das Gnadengesuch annehmen - nicht aus Überzeugung, aus mörderischem Kalkül. Er, der unauffällig und zurückgezogen lebende Inhaber eines Schuhreparatur-Service, war einmal ein erfolgreicher, geselliger Mensch, wohlhabend und glücklich verheiratet. Bis eines Tages zwei Vermummte einen Juwelierladen überfielen, auf der Flucht vor der Polizei zwei Geiseln nahmen und diese abknallten: Silvanos Frau und Sohn. Einer der beiden Täter wurde damals gefasst, Raffaele Beggiato, der andere konnte unerkannt entkommen. Von diesem Schicksalsschlag hat sich Silvano nie mehr erholt.

Die "dunkle Unermesslichkeit des Todes", die sein Leben in Besitz nahm, machte ihm eine Rückkehr in ein normales Leben unmöglich. Silvano gab seinen Beruf auf, zog in eine andere Gegend, kappte alle Verbindungen und sperrte alle Erinnerungsstücke an sein früheres Leben in eine Garage, die er nie mehr betrat. Nur zwei Fotos der Leichen behielt er bei sich. Wenn der inzwischen todkranke Mörder nun um sein Mitleid bettelt, wird Silvano der Begnadigung nur deshalb zustimmen, weil sie ihm die Chance zur Rache eröffnet: der freigelassene Raffaele wird ihn auf die Spur des untergetauchten Mittäters setzen.

Ich glaube, dass die Rache ein ganz schlechter Antrieb ist. Das ist auch der Grund, warum ich hier in dieser Form über Rache schreiben wollte - weil ich davon überzeugt bin, dass man dadurch im Leben nur verlieren kann.

Doch Massimo Carlotto moralisiert nicht. Im Gegenteil. In der "Dunklen Unermesslichkeit des Todes" expliziert er Schritt für Schritt den Rachefeldzug des Silvano Contin - in kurzen Kapiteln, mit knappen, trockenen Sätzen. Silvanos Schmerz wird nicht beschrieben, allein sein mit kalter Präzision durchgeführter Plan, der sich nicht damit begnügt, jemanden zur Strecke zu bringen, der auch Demütigungen und sadistische Momente enthält, enthüllt das Ausmaß seiner seelischen Zerstörung. Dass diese Art der Selbstjustiz überhaupt möglich ist, liegt an einem "Konstruktionsfehler" in der italienischen Rechtssprechung. Sie stellt es in das Ermessen der Hinterbliebenen der Opfer, ob ein Täter begnadigt wird oder nicht.

Das war für mich ein Motiv, diesen Roman zu schreiben: Um zu zeigen, dass der Staat in Italien keine Entscheidung treffen will in solchen wichtigen Fällen. Und zwar, weil er Angst hat vor der öffentlichen Meinung. Darum überlässt er dieses Problem den Familien der Opfer. Meine These aber ist, dass nur der Staat über Begnadigungen entscheiden darf. Die Opfer sind viel zu stark verstrickt... Ich wollte aber noch etwas anderes aufzeigen - außer der Rolle des Staates: Nämlich, dass in Italien eine Gesellschaft existiert, die unfähig ist, den Opfern zu helfen. Sie hilft ihnen nicht, und deshalb leben diese Menschen in einer sozialen Isolation, die sie dazu treibt, einen Hass zu entwickeln nicht nur gegenüber denjenigen, die das Unglück in ihre Familien gebracht haben, sondern auch ganz allgemein gegenüber der Gesellschaft.

Mit Verurteilung, Begnadigung und den Mühlen der Justiz kennt Massimo Carlotto sich aus: Er selbst war Gegenstand einer der kompliziertesten und spektakulärsten Gerichtsfälle der jüngeren italienischen Geschichte. Im Januar 1976 fand der damals 19-jährige Student aus Padua eine sterbende junge Frau, niedergestreckt von 59 Messerstichen. In Panik geraten verließ er ihre Wohnung, irrte durch die Straßen der Stadt, um schließlich zur Polizei zu gehen und als Zeuge auszusagen.

Die Polizei freilich sah in Carlotto den Tatverdächtigen, wohl nicht zuletzt, weil er als Mitglied der linksradikalen Gruppe "Lotta Continua" obsolet war. Er wurde unter Mordanklage gestellt, zwei Jahre später aber freigesprochen - aus Mangel an Beweisen. Doch das Verfahren wurde wieder aufgenommen - 18 Jahre Haft lautete das Urteil nach einem Indizienprozess. Carlotto tauchte unter, floh zunächst nach Paris, dann nach Mexiko und lebte jahrelang im Untergrund. Später wird er die Geschichte seiner Flucht in seinem Buch "Il Fuggiasco", "Der Flüchtling", schildern, das 2003 von Andrea Manni verfilmt wurde. Der flüchtige Carlotto wurde schließlich von einem Anwalt verraten. Er wurde gefoltert, nach Italien überstellt, dort wurde der Prozess neu aufgerollt. Trotz internationaler Proteste saß er mehrere Jahre in verschiedenen Gefängnissen für Schwerverbrecher ein, 1993 wurde er von Staatspräsident Scalfaro auf Druck internationaler Solidaritätskampagnen und wegen seiner schweren Stoffwechselerkrankung begnadigt, doch erst 2006 wurde Carlotto voll rehabilitiert. Die Zeit nach seiner Haftentlassung nennt Massimo Carlotto "sein zweites Leben" - es ist ein Leben als Schriftsteller, als Kriminalschriftsteller.

Heutzutage in Italien ist das die Literatur der Realität: der Krimi. Eine Kriminalgeschichte, die an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit spielt, liefert zugleich auch einen Vorwand, um die Realität zu schildern: die soziale, die politische, die wirtschaftliche Realität - die den eigentlichen plot umgibt. Das also ist das Faszinierende: dass durch diese Art von Literatur die Möglichkeit entsteht, das gegenwärtige Italien zu schildern.

Und um dieses Italien von heute geht es Carlotto, dem literarischen Aufklärer, dessen Krimis auf ausgiebigen Recherchen basieren und, wie er sagt, immer auch journalistische Elemente enthalten. Nachdem es einen kritischen Journalismus in Italien nicht mehr gebe, müsse die Literatur diese Funktion übernehmen, meint Carlotto, dessen Werke auch von seinen guten Kontakten und persönlichen Erfahrungen profitieren. Nicht zuletzt davon, dass er, so Carlotto, einige Jahre "Gast" seines Staates sein durfte und in dieser Umgebung diverse Bekanntschaften machen konnte. Auf sich aufmerksam machte der Autor vor allem mit seinen "Alligatoren"-Romanen mit Marco Burrati alias der "Alligator" im Mittelpunkt, einem Bluessänger und Privatdetektiv mit besten Beziehungen zur Unterwelt. Als mediterranen Krimi noir hat man Carlottos Geschichten bezeichnet, die ein versöhnliches Ende nicht kennen und in denen es hart zur Sache geht: Machtgier, Korruption, neue Verbrechensallianzen, Geldwäsche und Umweltskandale werden in deutlicher Sprache beschrieben. Blutige Thriller, die immer wieder in den Nordosten Italiens führen, für Carlotto "das unglaublichste Laboratorium der Kriminalität in Europa".

Hier ist ein System auf dem Zusammenspiel von legaler und illegaler Wirtschaft aufgebaut worden. Illegale Wirtschaft bedeutet zum Beispiel Geldwäsche und kriminelle Müllbeseitigung. Denn was den Skandal in Neapel verursacht hat, das waren die Industrieabfälle aus dem Nordosten, die jahrelang nach Kampanien gebracht wurden. Und die Geldwäsche der verschiedensten Mafia-Organisationen, nicht nur der italienischen, sondern auch der ausländischen, bestand darin, in dieser Region in die Industrie zu investieren. Diese Fusion von legaler und illegaler Wirtschaft hat ein erfolgreiches System hervorgebracht - und ein neues Verbrechensmodell, das aus dem Nordosten Italiens ein Labor gemacht und so eine neue, moderne Kriminalität entwickelt hat.

In der "Dunklen Unermesslichkeit des Todes", einem Krimi, dem weitere Übersetzungen ins Deutsche folgen werden, geht es freilich weniger um Politik, auch wenn Carlotto Kritik übt am Begnadigungsprozedere der italienischen Justiz. Es geht um einen, der unschuldig schuldig wird, der, in seinen Schmerz eingesperrt, sich von diesem nur zu befreien glaubt, indem er Rache übt; eine grausame Rache, die auch beinhaltet, dass er, wie er sagt, das Opfer lehrt, "wie Schmerz, Angst und Entsetzen sich anfühlen". In einer Art Schnitt-Gegenschnitt-Technik entblößt Carlotto die unaufhaltsame Dramaturgie einer tödlichen Vernichtung und kontrastiert die Monologe eines lange Zeit dumpf wirkenden Verbrechers, der nach und nach das Spiel, das mit ihm gespielt wird, zu durchschauen beginnt und am Ende so etwas wie wie innere Größe und seinen Frieden gewinnt, mit dem eines lebenslang Traumatisierten, der nicht minder sozial isoliert ist wie die Mörder seiner Familie - und der nur eines kennt: Vergeltung. Am Ende wird dieser, Silvano Contin, einen fast perfekten, grausamen Doppelmord begangen und scheinbar auch eine neue Identität gewonnen haben - und doch für seinen Schmerz keine Linderung, für seinen Verlust keine Entschädigung finden. Wie Carlotto das in diesem Roman inszeniert, ist einfach, aber wirkungsvoll - und äußerst spannend.

Buch-Tipp
Massimo Carlotto, "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes", aus dem Italienischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Tropen Verlag