Ungarns Rechtsruck kein europäischer Einzelfall?

Elite statt Umverteilung

Nicht erst seit dem 1.Jänner dieses Jahres muss man sich Sorgen um Ungarn machen. Die einstige "lustigste Baracke des Ostblocks" hat - aus westeuropäischer Perspektive betrachtet - mit der Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán den Boden der Demokratie verlassen.

Aber so einfach sind die Dinge nicht, man muss schon genauer hinsehen, um zu verstehen, warum das ehemalige Vorzeigeland der Europäischen Union einen konservativ-nationalen politischen Weg eingeschlagen hat und Irritation in Europa auslöst.

Die ungarische Geschichte

Ungarn war über Jahrhunderte von Okkupation und Fremdherrschaft bestimmt: erst der türkischen, dann der österreichischen, zuletzt der sowjetrussischen. Dann kam das Jahr 1988, in dessen Verlauf verschiedene politische Gruppierungen das Ende des kommunistischen Regimes und den Beginn des demokratischen Ungarns einläuteten.

Damals hatte man große Hoffnungen, glaubte sich in der Tradition der europäischen Freiheitsbewegungen und wurde schnell ernüchtert. Die erste freigewählte Regierung unter dem bürgerlich-konservativen Ministerpräsidenten József Antall privatisierte im großen Stile. Alle Regierungen seither machten es ebenso. Die Lebenskosten stiegen enorm.

Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern war der Slogan: "weniger Staat - mehr Privat". Profitiert haben davon einige wenige, die große Masse der Bevölkerung ging leer aus. Das hat nicht nur den Glauben an die politischen Parteien - allen voran an die sozialdemokratische Partei - erschüttert. Auch der Hass auf Westeuropa hat zugenommen. Heute meint ein Großteil der Bevölkerung, seit 1990 vom kapitalistischen Westen kolonialisiert worden zu sein.

"Hass gegen die Unglücklichen als Element der öffentlichen Meinung und Staatspolitik"

Renata Schmidtkunz im Gespräch mit Gáspár Miklós Tamás

Orbáns Sieg

Kein Wunder also, dass die rechtskonservative Partei Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán im April 2010 als große Siegerin aus den Parlamentswahlen hervorging. Im Wahlkampf hatte Orbán Kampf gegen Korruption, Kampf gegen Globalisierung und Rückbesinnung auf ein stolzes Ungarn versprochen - und bekam dafür 68 Prozent der Stimmen. Seit den Regionalwahlen im September 2011 stellt Fidesz 93 Prozent aller Bürgermeister auf dem Land.

Mit Hilfe von 153 neuen Gesetzen seit Orbán Regierungsantritt wurde das Land und sein politisches System radikal umgebaut. Das betrifft das Rechtssystem ebenso wie das Bildungssystem, die Kultur-, Wirtschafts- und Finanzpolitik und die Sozialpolitik. Das mit 1.Jänner 2011 in Kraft getretene neue Mediengesetz, das als Bedrohung der Presse- und Meinungsfreiheit in Ungarn gewertet wird, ist nur ein Stein in diesem Mosaik.

Gáspár Miklós Tamás, politisch aktiver Philosoph, Forschungsprofessor an der Akademie der Wissenschaften in Budapest und 1988 einer der Gründer der ungarischen Demokratie, sieht sein Land nicht nur wirtschaftlich in einem schlechten Zustand, sondern vor allem moralisch: "Wir haben eine Gesellschaft, in der es kein Vertrauen gibt und keine Idee des Gemeinwohls, keinen Glaube an Freiheit und Gerechtigkeit. Die Tradition ist zerstückelt, die Zukunft existiert nicht. Also, was wollen wir?"

Versäumte Chancen?

Welche Chancen wurden verpasst oder gar nicht ergriffen? Warum ist es Ungarn, dem einstigen Lieblingskind des Westens, nicht gelungen, wirtschaftlich erfolgreich zu sein? Die sozialen Unterschiede werden immer größer. Mindestens drei Millionen Menschen leben heute weit unter der Armutsgrenze von rund 240 Euro.

In Ostungarn sind 70 Prozent der Bevölkerung arbeitslos - und das seit fast 20 Jahren. Der Hass richtet sich gegen die Roma - geschürt von den Anhängern der rechtsextrem-faschistischen Partei Jobbik ("Die Besseren") und der Ungarischen Garde. Antisemitismus und Antiziganismus sind längst wieder salonfähig geworden. Von den Hass-Parolen der Jobbik-Anhänger distanziert sich Orbáns Regierung offiziell zwar, dagegen unternommen wird aber nichts.

Von Orbán erwartet sich der Großteil der ungarischen Bevölkerung, dass er dem Ausverkauf ihres Landes ein Ende macht. Die Einschränkung ihrer politischen Freiheit nehmen sie - so scheint es - dafür in Kauf.

Was Orbán anstrebe, so der Philosoph Gáspár Miklós Tamás, der ob seiner offenen Kritik Gefahr läuft, seine Anstellung als Forschungsprofessor an der Akademie der Wissenschaften in Budapest demnächst zu verlieren, sei ein elitärer Staat, mit viel Kontrolle in den Händen weniger. Sein nationalistisches Gehabe sei eben auch nicht mehr als das. Und dadurch umso gefährlicher.

Und Europa?

Auf die Frage, was er, der ehemalige Dissident, der jahrelang mit Berufsverbot belegt war, von der Europäischen Union in dieser Situation erwarte, kommt eine klare Antwort: "Nichts. Das ist allein die Aufgabe der Ungarn!"