Belgian Rules / Belgium Rules

Wonge Bergmann

ImPulsTanz

Jan Fabre vermisst Belgien

Einen absoluten Programmhöhepunkt hat das ImPulsTanz-Festival im Wiener Volkstheater präsentiert: die Produktion "Belgian Rules/Belgium Rules" von Jan Fabre. Eine kritische Liebeserklärung des Belgiers an seine Heimat, die die Grenzen der Belastbarkeit bei Darstellern und Zuschauern auslotet und dennoch fesselt.

Kulturjournal, 19.7.2017

Katharina Menhofer

Jan Fabre, dem heuer ein Schwerpunkt gewidmet ist, gilt als einer der innovativsten und vielseitigsten Künstler seiner Zeit und ist seit über 40 Jahren als bildender Künstler, Theatermacher, Autor und Performancekünstler tätig.

Ein hämmernd-schreiendes Farbenfeuerwerk

Das Publikum tobt. Vier Stunden ohne Pause hat es hinter sich gebracht - ein buntes schrilles, hämmernd-schreiendes Farbenfeuerwerk inklusive Glitzerkonfettiregen, Bierfontänen, Musikkapellen und Fahnengeschwinge. Wenn Jan Fabre sein Land vermisst, dann breitet er nicht brav die Landkarte aus, sondern schlägt ein buntes Pop-up-Buch auf - mit Bildern so irr, als hätte man David Lynch gebeten den brasilianischen Karneval auszurichten.

Es sei eine kritische Liebeserklärung an sein Land, so Jan Fabre. Eine Liebeserklärung an das Land der drei Sprachen, das Land von Manneken Piss und der vielen Maler, der Pommes Frites und des unmäßigen Bierkonsums, aber auch des erstarkten Nationalismus oder der dunklen kolonialen Geschichte.

Schwarzes Gesicht mit roten Lippen

Maarten Vanden Abeele

Nummernrevue-Abend in 14 Kapiteln

Belgien sei das Cockpit und das Scheißhaus Europas, heißt es an einer Stelle. In 14 Kapitel ist der Nummernrevue-Abend unterteilt - und es empfiehlt sich auf alle Fälle das Programmheft zu konsultieren, das diese Kapitel erläutert und ein Belgien-Glossar mitliefert, das einen mit den landläufigen Traditionen und Begriffen vertraut macht. Viele der Bilder werden erst dadurch dechiffrierbar - wenn man etwa in den bunten, Orangen werfenden Figuren mit den absurden Straußenfederhüten die sogenannten Gilles erkennt - traditionelle Karnevalsfiguren der wallonischen Stadt Binche.

Und weil Jan Fabre Bildender Künstler ist, sind einige der Kapitel den großen Malern Belgiens gewidmet: Jan van Eyck, Peter Paul Rubens, Pieter Bruegel oder Rene Magritte. Da erkennt man dann in einer Szene Zitate aus Rubens Bild "Kreuzabnahme" wieder, die nackte Frau in Blau und Gelb scheint Magrittes "La magie noire" entsprungen und auch die Herren in Anzug und Melone, die vom Himmel regnen hat man schon einmal gesehen.

"Belgian Rules"-Training

Herzstück der Aufführung sind aber die "Belgian Rules" - unsinnigste Regeln, die die 15 Darsteller deklamieren, während sie ein körperliches Fitnessprogramm aus Laufen, Springen und Bierkistenstemmen hinlegen. Insgesamt 36 solcher Regeln, Gebote und Verbote werden vorgetragen. Danach sind die Darsteller schweißüberströmt, vom Publikum mitleidig bestaunt, bevor sie nach Regel 36 beginnen den ganzen Regelkanon von vorne herunterzubeten, inklusive Gymnastik versteht sich.

Später werden sie insgesamt vier Durchgänge solcher 36-Regel-Workouts hinlegen, das Publikum stöhnt, die Darsteller keuchen und schwitzen, eine Darstellerin bricht ob der Anstrengung in Tränen aus, die Regeln - unsinnig oder nicht sollen verinnerlicht werden - Wiederholung bis zum Zusammenbruch, Unbarmherzigkeit bis zum Schmerz.

Künstler mit weißen Federhüten

Wonge Bergmann

Drastisch, rätselhaft poetisch & aktuell

Provokant und drastisch ist Fabres Gesamtkunstwerk - wenn aus den Hintern der Darsteller Weihrauchkessel baumeln, wenn aus Dildos Seifenblasen geblasen werden, wenn eine Darstellerin auf die Bühne uriniert. Geheimnisvoll, rätselhaft, poetisch ist Fabres Gesamtkunstwerk, wenn die Bewegungen der Simultanübersetzerin zum Tanz werden, wenn Plüschkatzen von der Decke baumeln, wenn Tauben mit langen grauen Gewändern die Bühne kehren und dann von der Marschmusikkapelle im Zeitlupentempo zu Tode geprügelt werden.

Politisch und aktuell ist sein Gesamtkunstwerk, wenn von Brüssel bis Molenbeek, vom Rechtspopulismus bis zur den Flüchtlingskrise assoziiert wird und wenn am Ende hoffnungsvoll die Möglichkeits-Regeln verlautet werden. "Es ist möglich an einen poetischen Terrorismus zu glauben, es ist möglich an Europa zu glauben, es ist möglich mit dem Herzen zu denken und dem Hirn zu fühlen."

Es ist ironisch und lustig, aber auch unglaublich anstrengend. Irgendwann nach zwei Stunden verlassen die ersten Zuschauer den Saal, und es macht sich eine gewisse Überforderungs-Ermüdung bemerkbar. Auf der Bühne explodiert das Geschehen munter vor sich hin, bis zum Ende die Friedenstauben und nicht mehr die Nationalisten die Fahnen schwenken.

Belgien ist vermessen - und man hat das Gefühl, Jan Fabre hat nichts, aber auch gar nichts vergessen in seiner bunten Zeichnung. Wer es bis zum Schluss ausgehalten hat, darf stolz auf sich sein, und mit einer Menge Bilder und einer unglaublichen Erfahrung belohnt nach Hause gehen.

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