Zygmunt Bauman

AFP / MICHAL CIZEK

Sachbuch des Monats Jänner

"Retrotopia" von Zygmunt Bauman

Wenn es eine spezielle Autorität der "letzten Worte" gibt – wie groß sind dann die Zuschreibungen an das letzte Buch eines bedeutenden Autors? Das letzte Buch des britisch-polnischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman interveniert in aktuelle Konstellationen ohne sie zu benennen: Was haben der Brexit, Donald Trumps "America first", die Finanzkrise und der Widerstand gegen Zuwanderung gemeinsam? Und wie ist überhaupt die allgemeine Befindlichkeit angesichts unleugbarer Umgestaltungen?

In dem sehr heterogenen Werk des Zygmunt Bauman gibt es ein Kontinuum: den Versuch, seine jeweilige Zeit zu verstehen, ihre Unmenschlichkeiten und deren jeweilige Ursachen zu benennen und ihr Alternativen zu weisen.

In seinem Abschiedsbuch erinnert Bauman daran, wie eng in der Frühzeit der Moderne die Begriffe "Fortschritt" und "Hoffnung" miteinander verknüpft waren. Damals dominierten Utopien als Ausdruck des Vertrauens in die schöpferische Vernunft des Menschen - legendäre Texte, die einen Ort des "Noch nicht" entwarfen, der uns als mögliches Ziel gesetzt ist. Heute, so Bauman, löst der Gedanke an die Zukunft vielfältige Ängste aus:

"Was wir aus Gewohnheit nach wie vor 'Fortschritt' nennen, löst heute ganz andere Emotionen aus, als Kant, der Schöpfer des Begriffs, mit ihm wachrufen wollte: nicht mehr freudige Hoffnung auf einen Zugewinn an Komfort und das bevorstehende Verschwinden von Unannehmlichkeiten und Beunruhigungen, die mit der Zeit in Vergessenheit geraten werden, sondern Furcht vor nahenden Katastrophen".

Doch wie artikuliert sich diese Furcht, was sind ihre Ursachen und sind wir ihr tatsächlich wehrlos ausgeliefert? Dem Fortschritt, so Baumans Beobachtung, eignet eine spezielle Dialektik: Kaum ist jener Punkt erreicht, in dem die Voraussetzungen einer besseren Welt gegeben sind, erfolgt ein Umschlag. Und so hat sich das "positive, ungestüme und selbstbewusste" Utopia in das misstrauische, schwermütige und defätistische "Retrotopia" verwandelt.

Hoffnung auf Besserung

Unter "Retrotopie" versteht Bauman eine auf vielen Feldern angesiedelte kollektive Mentalität und ein dazugehöriges Verhaltensmuster der Menschen der westlichen Moderne, die sich eine Verbesserung ihrer Situation oder gar der der Welt durch soziale Organisationsprinzipien der Vergangenheit erhoffen. Retro also.

Was Bauman beschreibt, ist ein vielschichtiges System aus Komponenten, von denen manche einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Die Idee von der Nation und dem territorial souveränen Nationalstaat als überzeitlichem Denkmuster internationaler Beziehungen verträgt sich zunächst mit dem zeitlich vorgelagerten "Tribalismus", der im nationalen Ideal überwundenen Stammesgesinnung, schwer.

Aber der Widerstand gegen das Fremde und die Annahme von der Überlegenheit der eigenen Einheit schaffen eine Schnittfläche. Der ostentative Nonkonformismus, der narzisstische Kult um die eigene Person und ihre Authentizität, die dem viel kritisierten "Massenmenschen" des Industriezeitalters fremd waren, sind kompatibel mit jenen Managementtheorien, die in Silicon Valley praktiziert werden. Und schließlich dient ein sinnloser Konsumismus der Verdrängung des Unbehagens in einer derartigen Kultur.

Ära sozialer Experimente

Den Ausgangspunkt dieser merkwürdigen Konjunktur retrotopischer Phänomene sieht Bauman in der durch die Globalisierung beförderten Trennung von Macht und Politik. Der "Leviathan" des Thomas Hobbes hat seine Schutzfunktion verloren - auch im sozialpolitischen Feld, wo unter der Parole der Selbstverantwortung die Frage von Erfolg oder Misserfolg eines Lebens privatisiert wurde.

Das ungeheure Anbot an billigen Arbeitskräften hat jene informellen Verträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die der Staat zumindest moderierte, storniert. Zu Recht verweist Bauman auf unzählige Analogien mit der schockhaften Periode der Frühindustrialisierung:

"Sie brauchten viele Jahrzehnte, um innerhalb jener anonymen Menge, die in die frühkapitalistischen Fabriken wankte, gemeinsame Interessen zu entdecken und diese Entdeckung mit der Idee der 'Solidarität' zu krönen, womit eine Ära sozialer Experimente begann."

Und wo wäre heute das Feld für solche Experimente? Bauman überrascht mit einem entschiedenen Plädoyer für das bedingungslose Grundeinkommen - so düster im Augenblick die Chancen für dessen Realisierung auch sein mögen. Und er überrascht auch damit, dass er die überzeugendste Antwort auf die grundlegende Frage um Leben und Tod der Menschheit bei Papst Franziskus findet, den er aneignend extensiv zitiert:

"Alle, vom Kleinsten bis zum Größten, bilden einen aktiven Part beim Aufbau einer integrierten und versöhnten Gesellschaft. Diese Kultur ist möglich, wenn alle an ihrer Ausgestaltung und ihrem Aufbau teilhaben. Die gegenwärtige Situation lässt keine bloßen Zaungäste der Kämpfe anderer zu."

Das ist eine letztendlich vage Perspektive, doch dieses Buch intendiert keine Utopie, sondern ein weiser Mann analysiert hier die Hindernisse am Weg zu einer glücklichen Zukunft, von der er weiß, dass er an ihr nicht teilhaben wird.

Service

Zygmunt Bauman, "Retrotopia", edition suhrkamp, 220 S.

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