Gedanken für den Tag

von Paul Michael Zulehner. "Nach dem Hosianna - Gedanken zur Karwoche". Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Die evangelisch-lutherische Theologin und Religionspsychologin Susanne Heine und der römisch-katholische Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner machen sich in der Karwoche Gedanken um religiöse Verehrung, um Politik, um Leid und um das Kreuzessymbol. Ein Leichnam an einem Kreuz als "Logo" für eine Religion hat nämlich von Anfang an die Kritik herausgefordert, hier werde ein sadistisches Spiel getrieben. Dabei werden aber die Menschen mit ihren oft ungezügelten aggressiven Neigungen ausgeklammert. Das Kreuz sehen der Katholik und die Protestantin als Mahnmal dafür, wozu Menschen fähig sind, und dafür, dass Leid nicht notwendig die Folge von Schuld bedeutet.

Ein Archetyp, so der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung, trägt das in sich, was auch wir in uns tragen. Ich meine: Jesus von Nazareth ist so etwas wie ein Archetyp des Menschen. Sein Leben kann eine Lesehilfe für unser aller Leben sein.
In einfachen Verhältnissen geboren ist er unauffällig herangewachsen. Dann kam eine dichte Zeit in der Öffentlichkeit. Jesus zeigt eine auffällige Vorliebe für all jene, die es nicht leicht haben in ihrem Leben, die Sünder, die Zöllner, die Kranken. Ihm widerfahren Liebe wie Verrat, Jubel und Ablehnung. Das vorläufige Ende ist der gewaltsame Tod am Kreuz.
Eines durchzieht sein Leben wie ein roter Faden: Er war ein Mensch, der ohne Bedingung und notfalls völlig einseitig liebte. Selbst die Feinde umschloss seine Liebe. Gewalt war ihm fremd. Seine Botschaft war einfach und doch provokant: Das Entscheidende im Leben jedes Mensch ist, ein liebender Mensch zu werden. Im Brief eines Paulusschülers an die Christen in der Stadt Kolossä findet sich zu Beginn ein Hymnus aus der Liturgie der frühen Kirche. "Auf ihn hin ist alles erschaffen", heißt es in diesem Text. Jesus Christus ist der "Erstgeborene der Toten". Für mich bedeutet das: Wir sind Zweit- und Drittgeborene. Unser Lebensweg hat das gleiche Ziel: in einem alltäglichen Leben, durch Freuden, Leiden und Tod, die Liebe zu lernen. Dann kann im Tod auch uns das widerfahren, wovon die Christenheit zu Ostern von Jesus erzählt: Im Tod von den Fesseln des Todes befreit, werden wir ein Moment an der vollendeten Welt sein. Oder mit den Worten der Heiligen Hildegard von Bingen und dem Kolosserhymnus: Ein Glied am vollendeten "Weltleib" der Schöpfung, deren Haupt - so glauben Christinnen und Christen - Christus, der Auferstandene ist.
Nur ein frommer Traum? Oder das, was meine Aufgabe jeden Tag ist: Alltäglich an meinem Platz nach und nach eine Liebende oder ein Liebender zu werden?

Service

Buch, Paul M. Zulehner, "Kirchenvisionen. Orientierung in Zeiten des Kirchenumbaus", Patmos Verlag
Buch, Paul M. Zulehner, "Aufruf zum Ungehorsam. Taten, nicht Worte reformieren die Kirche", Schwabenverlag
Buch, Paul M. Zulehner, "Verbuntung. Kirchen im weltanschaulichen Pluralismus. Religion im Leben der Menschen 1970 - 2010", Schwabenverlag
Buch, Paul M. Zulehner, "Seht her, nun mache ich etwas Neues. Wohin sich die Kirchen wandeln müssen", Schwabenverlag

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120403 Gedanken für den Tag / Paul Michael Zulehner
Länge: 03:49 min

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