Gedanken für den Tag

15. November 2012, 06:56

"Tausende Ehen leiden an versäumter Scheidung." Diese lapidare Feststellung macht Gerhart Hauptmann 1894 in einem Brief an seinen Vater. Worauf dieser ihm unerwartet eingesteht, dass er sich schon lang von seiner Frau, Hauptmanns Mutter also, entfremdet habe; doch schon im nächsten Schreiben betont er die Treue und den Familienfrieden.
Für Gerhart Hauptmann jedoch sollte es mit dem Familienfrieden vorbei sein. Er war 31 Jahre alt und hatte mit seiner Frau Marie, deren Vermögen ihm seine schriftstellerischen Anfänge ermöglicht hatte, drei Kinder. Im Jahr 1893 verliebte sich der mit seinem Stück "Die Weber" über Nacht berühmt Gewordene Hals über Kopf in die achtzehnjährige Musikerin und Schauspielerin Margarete Marschalk. Zunächst wollte Gerhart Hauptmann Familienfassade und liebevollen Umgang mit Frau und Kindern aufrecht erhalten und gleichzeitig die erotische Beziehung mit Margarete leben. Als er sich anlässlich der Erstaufführung eines seiner Stücke in Paris aufhielt, erfuhr er, dass seine Frau mit den Kindern nach Amerika aufgebrochen war. Flux reiste er ihnen nach. Und in Amerika kam ihm dann die Erkenntnis: "Mit so viel hundert Fasern bin ich an Maus und die Kinder gewachsen - in diesen Tagen habe ich es zur Genüge gefühlt - dass ohne sie mir kein Glück ein Glück sein kann." An Margarete schrieb er einen Abschiedsbrief, und für sich selbst formulierte er: "Das was ich sonst noch im Leibe habe muss ich langsam herauszuheilen versuchen."

Doch kaum ist Hauptmann in Berlin und trifft Margarete, flammt das Liebesverhältnis wieder auf. Und Hauptmann notiert: "Ich bin der Meinung: wir Menschen thun was wir müssen, nicht was wir wollen." Ein Satz, der nicht nur seine eigene Erfahrung in dieser Situation beschreibt, sondern auch für die Figuren gilt, die er in seinem epischen und dramatischen Werk entwirft. Und eine Situation, die über jeden und jede hereinbrechen kann: dass sich das eigene Leben nicht immer mit dem Willen steuern lässt.

Service

Buch, Peter Sprengel, "Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biografie", Verlag C. H. Beck
Buch, Hans-Egon Hess (Hg.), "Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Dentenar-Ausgabe zum 100. Geburtstag des Dichters", Band V: Romane, "Der Narr in Christo Emanuel Quint", Proyläen Verlag
Buch, Hans Schwab-Felisch (Hg.), "Gerhart Hauptmann: Die Weber. Dichtung und Wirklichkeit", Ullstein Taschenbuch

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