Freuds Erbe - Teil 1

Die Mutter der Psychoanalyse

Die Wiener Psychoanalytikerin Melanie Klein datierte den ödipalen Konflikt vor. Im Gegensatz zu Freud, der diesen Konflikt zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr einordnete, sah sie das Problem bereits im Säuglingsalter.

Freuds Annahme, dass ein Kind zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr lerne, den Verzicht auf den anders geschlechtlichen Elternteil zu ertragen, in dem es eine Fülle von Regeln und Verboten in sein Über-Ich integriere, diesen Prozess, den ödipalen Konflikt, beobachtet die Wiener Psychoanalytikerin Melanie Klein schon im Säuglingsalter.

Bereits 1924 trug Melanie Klein ihre Beobachtungen auf einem Psychoanalytischen Kongress in Salzburg vor, und löste unter den Analytikern im Publikum heftige Kritik aus.

Vorbild Freud

Melanie Klein wurde 1882 als Tochter des jüdischen Arztes Moritz Reizes in Wien geboren. Die finanziellen Ressourcen der Familie Reizes waren knapp, studieren durfte nur der Bruder. Melanie wurde 1903 mit dem Chemiker Arthur Klein verheiratet und zog nach Budapest. Sie bekam drei Kinder, doch die Ehe mit Arthur Klein machte sie unglücklich. Melanie reagierte mit psychosomatischen Beschwerden.

1918 entschloss sie sich, eine Psychoanalyse bei Sandor Ferenzy in Budapest zu machen. Im selben Jahr nahm sie am Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Budapest teil. Dort lernte sie Sigmund Freud kennen und schätzen.

Die Erweiterung von Freuds Modellen

Die ersten Beobachtungen zur frühkindlichen Entwicklung hatte Melanie Klein in der Analyse ihrer drei Kinder gesammelt. In Berlin, unterstützt von Sigmund Freuds Schüler und Vertrautem Karl Abraham, eröffnete sie eine Praxis. Die Konsequenz ihrer klinischen Arbeit war, dass sie Freuds Modellen weitere Thesen hinzufügte.

Melanie Klein erklärte mit dem Todestrieb die Aggression des Menschen. An Freuds Modell von Ich, Es und Über-Ich interessierte sie vor allem der Prozess der Verinnerlichung. Denn Freud leitete sein Konzept der Strukturtheorie von der Beobachtung ab, dass die gebändigten ödipalen Wünsche, Ängste und Schuldgefühle zu inneren Gesetze erhoben werden. Melanie Klein beobachtete diesen Prozess bereits im Säuglingsalter und entwickelte ihre Objektbeziehungstheorie.

Die Objektbeziehungstheorie

Im Zentrum von Melanie Kleins Theorie steht die Beziehung des Säuglings zur Mutter. Diese wird in den ersten Wochen nur fragmentarisch wahrgenommen: als nährende Brust oder als wärmender Schoß. Darum spricht Melanie Klein von einem Objekt, das im Gedächtnis des Kindes als Imago, als Vorstellung, gespeichert wird. Doch nicht immer steht die Mutter zur Verfügung. Melanie Kleins These: Das Kind erlebt eine "gute" und eine "böse" Brust - und reagiert darauf mit Aggression.

Von ihren Kollegen wurden diese Thesen scharf kritisiert. Ihre heftigste Gegnerin war Anna Freud, die den Modellen des Vaters treu geblieben war. Die Abende in der Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft wurden zum Spießrutenlauf. Doch eine Zuhörerin war beeindruckt: die Londonerin Alex Stretchy.

Die Bedeutung der Mutter

Durch Stretchy erhielt Melanie Klein den Kontakt zur Londoner Psychoanalytischen Gesellschaft und eine Einladung zu einer Vortragsreise. Der Vorsitzende der Londoner Psychoanalytischen Gesellschaft Ernest Jones bat sie, seine Kinder zu analysieren. Melanie Klein eröffnete in London eine Praxis und kehrte nicht mehr nach Berlin oder Wien zurück.

Melanie Klein hatte Freuds Erbe angetreten. Seine Theorien hatte sie um die Bedeutung der Mutter in der frühkindlichen Entwicklung erweitert. Als sie 1960 im Alter von 78 Jahren in London starb, waren ihre umfangreichen Arbeiten zum Meilenstein der Kinderanalyse geworden.

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 25. September bis Donnerstag, 28. September 2006, 9:05 Uhr

Download-Tipp
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Links
Sigmund Freud Museum Wien
Freud-Institut
Wiener Psychoanalytische Vereinigung